Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
wäre am Nachmittag unmöglich, wenn der Wind frisch und das Meer wild ist, doch am Morgen ist es oft ruhiger. Er rudert so weit hinaus wie möglich, bevor der Sog zu stark wird. Die Sonne scheint auf seine Unterarme. Er hebt deutlich sichtbar das Holzscheit hoch und wirft es ins Wasser. Sie beobachtet ihn bestimmt. Bereut sie es schon? Egal. Falls sie es sich anders überlegt, wird er den Stab an einem sicheren Ort für sie bereithalten.
Was immer es auch sein mag.
Wann immer das auch sein mag.
Wo immer das auch sein mag.
Matthew besteht darauf, dass sie sich den Tag über noch ausruht, bevor sie zu Mrs. Fullbright geht. Ihre Wunden müssen heilen, ihre Füße sind aufgerissen. Den Morgen verbringt sie im Bett, und als Matthew mittags schlafen muss, setzt sie sich nach draußen auf die Plattform, blickt auf den Ozean und lässt ihre Gedanken schweifen. Sie fürchtet sich davor, zu Mrs. Fullbright zu gehen, da sie nicht weiß, ob sie dort willkommen ist. Doch Matthew wirkt zuversichtlich, und sie vertraut ihm. Sie vertraut ihm, obwohl sie ihn nicht kennt. Irgendetwas an ihm kommt ihr bekannt vor, und seine Gegenwart wirkt tröstlich. Sie weckt ein längst vergessenes Gefühl von Sicherheit. Sie trennt sich ungern von ihm, begreift aber, dass es sein muss. Sie weiß, wie die Gesellschaft denkt: Eine junge Frau kann nicht mit einem alleinstehenden Mann in einem Haus wohnen, in dem es nur ein Bett gibt. Sie muss tun, was die Gesellschaft ihr vorschreibt, wenn sie die Stelle bei Mrs. Fullbright bekommen, ehrliches Geld verdienen und zu ihrer Schwester reisen will.
Der Nachmittag schwindet dahin. Bald dämmert es, und Matthew muss wieder an die Arbeit gehen. Sie holt ein paarmal tief Luft, hoch oben über der Welt, und steigt die steile Wendeltreppe hinunter.
Matthew ist auf, er trägt Hose, Unterhemd und Hosenträger und zündet sich gerade die Pfeife an. Als sie hereinkommt, dreht er sich um und zieht lächelnd einen Mundwinkel hoch.
»Ich nehme an, ich muss gehen.«
»Es ist am besten so. Sie finden schon Ihren Weg.«
Sie nickt und geht zur Tür, um die zu engen Schuhe anzuziehen. Matthew hat ihr eine kleine Tasche gepackt: zwei Kleider, die beide zu groß sind. Immerhin hat sie etwas zum Anziehen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, sie fühlt sich hilflos.
»Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen, Isabella«, sagt er, lächelt und korrigiert sich. »Ich meine, Mary Harrow.«
»Danke. Für alles.«
Dann schließt sich leise die Tür hinter ihr, und sie steht auf dem Weg, der in die Stadt hinunterführt.
Wenngleich ihre Füße brennen, geht sie entschlossen los. Der Weg ist sandig und auf beiden Seiten von dichten, scharf riechenden Pflanzen gesäumt. Sie erkennt die essbaren Beeren, braucht diesmal aber keine zu pflücken. Sie hat heute drei anständige Mahlzeiten gegessen, und Mrs. Fullbright wird sicher noch mehr für sie haben. Der Weg verbreitert sich, die Stadt kommt in Sicht. Der Waldstreifen schützt die hölzernen Häuser mit den Blechdächern vor dem Wind, der vom Meer herüberweht. Es sind etwa zwanzig Gebäude. Eine Kneipe. Ein großer Schuppen, der vielleicht mit dem Zucker- und Holzhandel zu tun hat, den Matthew erwähnt hat. Eine kleine, unscheinbare Kirche mit verputzten Wänden.
Von der Anhöhe aus sucht sie nach dem großen Haus am Anfang der Straße. Hellrosa Holz. Zwei Stockwerke mit einer großen Veranda, die sich ums ganze Haus zieht. Es steht auf einem grünen Viereck mit säuberlich angeordneten Blumenbeeten. Hier wohnt Mrs. Katherine Fullbright mit ihrem Sohn Xavier, dazu vermutlich ein Ehemann und einige Dienstboten. Isabella hat insgeheim gehofft, dass Mrs. Fullbright ihr die Stelle nicht geben würde. Dass sie in die Sicherheit des Leuchtturms zurückkehren könnte. Doch nun, da sie das Haus, den Rasen und die Blumen gesehen hat, möchte sie gern dort wohnen. Sie möchte ihre Füße in das Gras drücken, in einem richtigen Haus mit Teppichen und Vorhängen wohnen. Es ist Monate her, dass sie diesen ganz normalen Luxus genossen hat.
Isabella geht entschlossen die grasbewachsene Böschung neben der ungepflasterten Straße entlang, durchs Tor und die Stufen hinauf zur Haustür. Die Fensterbänke sind weiß gestrichen. Es gibt Spitzengardinen. Sie mag Mrs. Fullbright schon jetzt.
Isabella ordnet ihr Haar, damit es den Schnitt an ihrem Hals verdeckt. Sie möchte Mrs. Fullbright keine Angst einjagen. Die Handschuhe, die der Frau des früheren Leuchtturmwärters gehört haben,
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