Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Isabella merkt, dass er mehr sagen möchte, doch sein Blick wandert zu Xavier, und er schweigt. Das Schweigen hält an. Sie will nicht, dass er geht, doch er wird es tun.
»Ich muss los.«
»Es war sehr schön, Sie zu sehen.« Sie möchte mehr. Sie möchte, dass er sie zum Tee einlädt. Dass er sie einlädt, in der Dämmerung auf der Plattform des einsamen Leuchtturms zu stehen und zuzusehen, wie die Nacht über den Himmel rollt, während er ihre Hand hält. Woher kommen diese fehlgeleiteten Gedanken?
»Auf Wiedersehen, Master Fullbright«, sagt er, und der Junge wagt ein leichtes Nicken.
Dann ist Matthew verschwunden. Sie drückt Xaviers Hand. »Komm, Kleiner. Die Köchin braucht noch ein paar Sachen fürs Abendessen.«
Matthew läuft auf und ab.
Auf der Treppe. Um die Plattform. Durchs Haus. Schließlich bleibt er im Telegrafenraum stehen, seine langen, stumpfen Finger zeichnen zarte Muster auf den Schreibtisch. Die Nacht ist hereingebrochen, das Leuchtfeuer arbeitet, er hat ein wenig Zeit für sich.
Isabella hat nichts von ihrer Schwester gehört. Matthew weiß das, doch ihr enttäuschtes Gesicht hat etwas in ihm ausgelöst. Isabella sitzt in Lighthouse Bay fest, und sie nennt das Fullbright-Kind »Liebling«, als wäre es ihr eigenes.
Das bereitet ihm die größten Sorgen. Sie sah so glücklich aus mit Xavier. Sie sah aus wie eine Mutter, die stolz auf ihr Kind ist. Aber Xavier ist nicht ihr Kind; er gehört den Fullbrights, die ebenso wankelmütig wie reich sind. Matthew hätte eigentlich wissen müssen, dass Isabella, die ihren Sohn verloren hat, nicht die Richtige ist, um das Kind einer anderen Frau zu versorgen. Er hätte ihr die Stelle niemals empfehlen dürfen. Isabella braucht ihre Schwester; sie braucht einen Grund, um von hier wegzugehen.
Er hat die Adresse natürlich behalten. Diesmal schickt er das Telegramm selbst, eine einzige Zeile, in der er fragt, ob dies noch die Adresse von Mrs. Victoria King sei. Er schickt es, um sich zu vergewissern, dass das erste Telegramm angekommen ist. Jeder Telegrafierende verlässt sich auf den Nächsten in der Kette.
Er schiebt seinen Stuhl zurück und steigt die steile Wendeltreppe hinauf zur Plattform. Das Meer ist seit zwanzig Jahren sein einziger Begleiter; diese Aussicht seit den letzten sechs. Heute Abend aber kann ihn auch das Umherlaufen nicht beruhigen. Es tut ihm nicht gut, Isabella zu sehen, gar nicht gut. Ihre wilde Lieblichkeit dringt ihm bis ins Mark. Er fühlt sich von innen wund.
In der Ferne fängt das Leuchtfeuer die geisterhaften Umrisse eines Schiffs unter vollen Segeln auf. Immer weniger Segelschiffe kommen nach Australien, immer öfter tuckern plumpe Dampfer über den Horizont. Er spürt, wie eine Zeit endet und eine neue beginnt; wie sich die Eleganz der hässlichen Sachlichkeit beugt. Er denkt an Clovis McCarthy, der zum letzten Mal die Treppe seines Leuchtturms hinabgestiegen ist. Eines Tages wird auch er zu alt sein, um das Leuchtfeuer zu bedienen, ein Relikt aus der Vergangenheit. Und was dann? Welche Einsamkeit und Leere erwarten ihn danach?
Jetzt wird er sentimental. Er reißt sich zusammen, geht wieder die Treppe hinunter und erfüllt seine üblichen abendlichen Pflichten. Doch drei Nächte darauf wird das Antworttelegramm eintreffen. Empfänger verzogen. Keine Nachsendeadresse angegeben.
Matthew schließt die Augen und reibt sich den Nasenrücken. Isabellas Schwester ist umgezogen. Deshalb hat sie nicht geantwortet. Sie weiß nicht, dass Isabella sie braucht. Matthew spürt ihre Hilflosigkeit. Was wird sie tun, wenn sie nicht zu ihrer Schwester reisen kann? Zurückkehren zu der Familie ihres Mannes, die sie verachtet? Bei den Fullbrights bleiben, bis sie sie hinauswerfen, weil sie Xavier zu nahe gekommen ist? Sie ist zerbrechlich wie ein Vogel. Diese Dinge könnten sie zerstören. Er erinnert sich, wie sie an jenem ersten Abend auf der Straße zusammengebrochen ist. Und obgleich er weiß, dass dieser Zusammenbruch auf die strapaziöse Wanderung zurückzuführen war, sieht er ihn auch als ein Symbol ihres Wesens: nur noch wenige Schritte, dann wird sie einfach stehen bleiben, in sich zusammenfallen, sich auflösen.
Seufzend öffnet Matthew die Augen. Er hat einen Telegrafen zur Verfügung. Er wird tun, was immer er kann, um Isabellas Schwester zu finden.
***
Der Himmel brennt blau über Isabella und Xavier, als sie Hand in Hand über den Strand gehen und Muscheln sammeln. Erst seit kurzem kann Isabella über den Sand
Weitere Kostenlose Bücher