Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
laufen, ohne kaltes Entsetzen zu verspüren. Die Erinnerung an ihre lange Wanderung wirft noch immer alptraumhafte Schatten. Doch es hilft, dass Xavier den Strand und den Sand liebt. Bevor die Nachmittagshitze hereinbricht, zieht sie ihm Hut und Schuhe an und holt seinen kleinen Bastbeutel, dann geht es los.
Am meisten liebt Xavier die schlanken, dunkelrosa Muscheln. Isabella sucht immer nach den vollkommen weißen. Sie spazieren gemeinsam über den festen Sand nahe des Wassers und waten manchmal bis zu den Knöcheln durch die Brandung. Die blaugrünen Brecher heben und kräuseln sich, tragen weiße Pferde auf ihrem Rücken, prallen donnernd gegeneinander. Die Sonne scheint warm, aber nicht grell. Xavier findet ein langes Stück Treibholz und zeigt es ihr. Das Ende ist spitz wie bei einem Stift.
»Das ist ein sehr schöner Stock. Braver Junge.«
Xavier bohrt die Spitze in den Sand, dreht sich langsam um sich selbst und zeichnet einen Kreis. Isabella klatscht und holt ein Stück Tang, das sie als Haare auf dem Kreis drapiert. Xavier schaut zu, wie sie aus Muscheln Augen bastelt und dann ein breites Grinsen aus moosgrünen Pipi-Muscheln. Xavier vollendet es mit zwei unregelmäßigen Ohren.
Das Meer donnert. Eine Möwe flattert laut schreiend über ihnen dahin.
Sie lächeln einander im Sonnenschein an. Isabella erinnert sich an Daniels Gesicht und versucht, sich vorzustellen, wie er jetzt aussähe. Doch seine Gesichtszüge waren noch nicht ausgeprägt genug, und sie malt sich einfach aus, dass er wie Xavier aussehen würde. Dass Xavier und Daniel, die am selben Tag geboren sind, ein und derselbe Mensch wären. Ihr ist unterschwellig bewusst, dass es nicht rational ist, aber ihrem Herzen tut es gut. Es ist richtig, dass sie und Xavier zusammen sind, allein am Strand im Sonnenschein, während die Welt mit ihrer kleinlichen Trivialität jenseits der Schraubenbäume und Akazien weitertickt.
Dann deutet Xavier auf die Zeichnung und sagt so deutlich, wie der Schrei der Möwe vorhin geklungen hat: »Das ist ein lächelndes Gesicht.«
Zuerst traut Isabella ihren Ohren nicht. Xavier ist fast drei und hat noch nie gesprochen. Noch nie. Nicht »Mama« oder »Dada« oder »Essen« oder »Spiel mit mir«. Und jetzt hat er einen vollständigen Satz gesprochen. Sie ist so schockiert, dass sie zuerst nicht antwortet, doch dann begreift sie, dass sie antworten muss , sonst spricht er vielleicht nie wieder.
»Ja. Es muss glücklich sein.« Dann fügt sie noch hinzu: »So glücklich, wie ich mit dir bin.«
»Es muss glücklich sein«, wiederholt Xavier und steckt den Daumen in den Mund.
»Bist du glücklich?«, fragt sie.
Er nickt schweigend, als wäre nichts Besonderes geschehen, und sucht weiter nach seinen rosa Muscheln.
Isabella fasst sich wieder. Sie weiß, sie müsste mit ihm nach Hause gehen und es Katarina erzählen, genießt aber den Gedanken, als einzige Frau die süße Stimme des Kindes zu kennen. Sie ist etwas Besonderes für Xavier, dies ist sicher der Beweis. Er hat nicht mit seiner Mutter gesprochen, sondern mit Isabella.
In diesem Moment wird ihr klar, dass sie es Katarina nicht erzählen wird. Soll sie doch genügend Zeit mit ihrem Sohn verbringen und es selbst herausfinden.
Isabella unterdrückt ein Lächeln. Vielleicht wird Xavier mit niemandem außer ihr sprechen. Die Sonne scheint nur für sie.
»Warte auf mich, Liebling«, ruft sie ihm nach, als eine Welle über den Strand rollt und ihr Sandbild wegspült.
Sechzehn
I sabella liegt bäuchlings auf dem Boden und gibt vor, ein Wurm zu sein. Xavier kichert wie verrückt, süß wie ein klingelndes Glöckchen. Eigentlich soll er der Vogel sein, aber er lacht zu sehr, um seine Rolle zu spielen. Von hier aus kann Isabella Teile eines Puzzlespiels unter dem Bett sehen und weiß, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Köchin oder Katarina oder vielleicht sogar Ernest ihr sagen werden, dass sie zu viel Zeit mit Spielen und nicht genug mit Saubermachen verbringt. Doch wenn sie mit Xavier zusammen ist, wird Aufräumen unwichtig. Nur die Gegenwart zählt und daran festzuhalten, solange es nur möglich ist.
»Wurm«, sagt Xavier und zeigt auf sie. »Wurm.«
Sie ist jetzt daran gewöhnt, ihn sprechen zu hören, obwohl es nur wenige Worte am Tag sind. In Gegenwart seiner Eltern hat er noch keinen Ton von sich gegeben. Sie zeigt auf ihn. »Vogel. Komm. Du bist dran.«
Als sich Schritte nähern, schrumpft er in sich zusammen und steckt sich den Daumen in den
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