Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
die Sirenen gehört. Sie hätte sich selbst am Strand gesehen, wie sie wie eine Wahnsinnige unter Tränen auf und ab lief, während ihre Freunde sie festhalten wollten. Sie riss die Augen auf. Es hatte keinen Sinn, ein altes Unglück noch einmal zu durchleben.
Sie war lange Zeit hergekommen, um mit Andy zu sprechen, so als wäre sein Geist in den Sand und das Meer gedrungen, als er starb. Sie hatte keine sehr festen Vorstellungen von den Geheimnissen von Leben und Tod und glaubte schon lange nicht mehr, dass Andy in irgendeiner Form noch hier war. Heute aber verspürte sie das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, weil er Libby gekannt hatte. Er wusste, was passiert war. Also war er einer der wenigen Menschen, die ihr einen Rat geben konnten.
Was sollte sie bezüglich ihrer Schwester unternehmen? In der kurzen Zeit, seit Libby völlig unerwartet aufgetaucht war, war alles drunter und drüber gegangen. An den seltenen guten Tagen gelang es ihr, nicht an sie zu denken; sie hatte viel zu tun und war es gewohnt, ihr Leben ohne Libby zu bewältigen. An manchen Tagen erschrak sie fast, wenn sie sich daran erinnerte, dass ihre Schwester nur fünf Minuten entfernt wohnte. Dann überkam sie ein schlechtes Gewissen und der Wunsch, etwas wiedergutzumachen. Familie, Blutsbande, die ganze Geschichte. Gelegentlich verspürte sie auch Panik oder Zorn oder eine unerklärliche Furcht, die sie förmlich herabzog. Dass Libby hier aufgetaucht war, hatte ihr Leben schlagartig unberechenbar und kompliziert gemacht. Zugegeben, es war auch vorher nicht einfach gewesen, aber immerhin vorhersehbar. Die Zeit verrann, es war zwanzig Jahre her, dass Andy gestorben war. Zwanzig Jahre, die sie mit Frühstück und Morgen- und Nachmittagstee und Bettenbeziehen verbracht hatte. Sie hatte den Kopf eingezogen und ihr Leben möglichst einfach gestaltet. Doch dann war Libby zurückgekommen.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie hoffte, dass ihre Schwester möglichst schnell wieder abreiste. Libby war immer selbstsicher gewesen, als Jugendliche auch überheblich. Es würde Juliet nicht überraschen, wenn sie erneut zu dem Schluss gelangte, dass Lighthouse Bay zu klein für sie war, und sie wieder an irgendeinen exotischeren Ort aufbrach. Falls Paris seinen Glanz verloren hatte, wäre es demnächst vielleicht London oder New York. Wenn Libby wegging, könnte Juliet ihr ruhiges Leben weiterführen.
Doch sie wusste instinktiv, dass dieses ruhige Leben sie allmählich erdrückte. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und spürte eine weißglühende Angst unter den Rippen: Du hast nicht gelebt. Meist gelang es ihr, das Gefühl zu unterdrücken und über sich selbst zu lachen, doch Libbys Ankunft hatte diese Angst spürbarer gemacht. Denn es stimmte: Sie hatte nicht gelebt. Sie hatte Andy verloren und beschlossen, über den Rest ihres Lebens nur dahinzugleiten.
Juliet ließ den Kopf auf die Knie sinken. »Libby ist zurück«, sagte sie. Ihre Stimme wurde fast gänzlich von der Brandung übertönt. »Glaubst du, ich kann ihr verzeihen?«
Andy antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Er war ein nachdenklicher Mann gewesen und weise für sein Alter. Sie wusste, er hätte etwas gesagt wie: Verbringe doch ein bisschen Zeit mit ihr. Du brauchst nichts zu übereilen. Erwarte keine Wunder. Womöglich hätte er auch gesagt: Du hättest das alles inzwischen hinter dir lassen sollen.
»Hey, Juliet!«
Sie hob den Kopf und öffnete die Augen. Unten auf dem Sand stand Scott Lacey in Surfershorts und einem weißen T-Shirt. Er kam zu ihr hoch.
»Guten Tag, Sergeant«, sagte sie lächelnd.
Er verzog das Gesicht. »Nenn mich nicht so, sonst frage ich, ob du auf deinen Romeo wartest.« Sein üblicher Witz, den er meist humorvoll anbrachte. Nur in den angespannten Wochen, nachdem sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, hatte es anders geklungen. »Ich dachte mir, dass ich dich hier finde. Es ist heute zwanzig Jahre her, oder?«
»Ja, genau zwanzig Jahre.«
»Und deine Schwester ist auch wieder in der Stadt.« Scott hob die rötlichen Augenbrauen. »Das muss weh tun.«
»Ich glaube, das ist ihr nicht bewusst. Sie kann die Vergangenheit besser hinter sich lassen als ich.«
»Sicher, wir beide sind jetzt hier die Oldtimer. Wir hüten die Lokalhistorie.« Er drehte sich zum Meer und sagte wehmütig: »Andy war ein toller Kerl.« Dann schaute er wieder zu Juliet. »Deine Schwester ist wohl ein bisschen schreckhaft. Sie hat mich letztens
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