Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Schönheit war, dass er erst nach einem Jahr Ehe merkte, welch eine Harpyie sie ist. Isabella schaut zu dem anderen Wagen zurück. Xavier sitzt still und unbemerkt zwischen Katarina und Edwina. Das kostbare Kind, umgeben von Eitelkeit und Käuflichkeit.
Zum ersten Mal schleicht sich ein Gedanke heran: Er hätte es besser, wenn er mit ihr nach New York zu Victoria reiste.
Sie verbannt den Gedanken sofort. Das ist Wahnsinn. Sie hat sich selbst Angst eingejagt, und das macht sie ungehalten. Warum sollte sie nicht zu diesem Schluss gelangen, wo sie das Kind doch so sehr liebt und alle anderen unfähig scheinen, ihn zu lieben? Sie bezweifelt, dass Katarina ihn überhaupt vermissen würde; Ernest ganz sicher nicht. Und wenn er bei ihnen bleibt, wird er genau wie sie. Das ist unvermeidlich. Er wird lernen, dass Geld wichtiger ist als Menschen, und selbst ein kalter, harter Mann werden.
Wäre Daniel auch so geworden? Sicherlich nicht. Isabella hätte ihn geleitet, ihre Liebe hätte seine Wertvorstellungen geformt und seine Konturen weicher gezeichnet. Sie kann das Gleiche für Xavier tun, zumindest solange er sich in ihrer Obhut befindet.
Sie dreht sich um und fängt seinen Blick auf, winkt ihm lächelnd zu. Er strahlt und winkt zurück. Katarina sieht es und legt schützend den Arm um ihn, lenkt ihn mit einem geflüsterten Wort ab. Doch das ist Isabella egal. Sie spürt, wen das Kind wirklich liebt.
Isabella weiß es eigentlich besser, doch manchmal malt sie sich die lange Reise über den Ozean zusammen mit Xavier aus. Nur sie beide. Die Dinge, die sie sehen würden, bevor sie das andere Ufer erreichen. Seine Hand in ihrer, für immer. Sie nimmt sich vor, jeden Tag nur eine Minute daran zu denken, doch aus der einen Minute werden fünf, und bald bewegen sich ihre Gedanken immer in dieselbe Richtung. Sie versucht, es zu unterdrücken. Sie weiß, dass sie es niemals tun wird. Sie liebt Xavier, und weil sie ihn liebt, wird sie ihn nicht von seinen Eltern und seinem Zuhause wegholen und als Flüchtling in eine ungewisse Welt stoßen. Doch die Phantasie wird zu einem vertrauten Vergnügen, in das sie sich flüchten kann, wenn andere, dunklere Gedanken drohen.
In der folgenden Woche bricht Ernest eines Morgens zu einer Geschäftsreise nach Brisbane auf, einer großen Stadt viele Meilen im Süden. Xavier hat die halbe Nacht wach gelegen, weil er leichtes Fieber und Husten hat. Isabella bemüht sich, ihn warm zu halten, damit er das Fieber ausschwitzen kann; die Krankheit des Kindes macht ihr Angst, ihr wird ganz flau im Magen. Sie hält Katarina tagsüber auf dem Laufenden, doch diese wirkt gleichgültig. Das Wetter ist stürmisch geworden, und das Scheppern der Dachrinne verstärkt nur ihre Angst, so als wäre nichts auf der Welt mehr sicher.
»Vor drei Monaten hatte er das schon einmal«, sagt Katarina. »Nach einem Tag war es bereits besser.«
Isabella weiß nicht, ob sie Katarinas Haltung als hartherzig betrachten soll oder ob es einfach die Weisheit einer Mutter ist, die ihren Sohn seit seiner Geburt kennt. Sie kehrt ins Kinderzimmer zurück und bleibt bei Xavier sitzen, bis die Nachmittagsschatten länger werden. Dann verlässt sie ihn, um der Köchin bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.
Die Tür am Ende des Ganges ist verschlossen. So früh. Isabella hat nicht zu Mittag gegessen, und ihr knurrt der Magen. Es ist doch noch nicht Abend, warum hat man sie eingeschlossen? Egal. Sie weiß jetzt, wie sie hinausgelangt. Sie drückt den Schlüssel durchs Schlüsselloch, zieht ihn auf einem Blatt Papier unter der Tür durch und geht in die Küche.
Weder die Köchin noch Katarina sind da. Das Haus liegt still und dunkel da, man hört nur das Klicken der Reiseuhr auf dem Bücherregal. Isabella horcht auf Geräusche, spürt aber nur den schwachen Widerhall der Stille im Haus, die einen Gegensatz zum draußen tobenden Wind bildet. Sie zündet in der Küche eine Lampe an und geht zur Eiskiste. Xavier schläft, er sollte ohnehin nicht essen, solange er Fieber hat, aber sicher hat niemand etwas dagegen, wenn sie sich Brot und Käse nimmt.
Schweigend isst sie im flackernden Lampenlicht und kehrt zu dem Jungen zurück.
Sie legt ihm die Hand auf die Stirn. Das Fieber ist gewichen, ihre Hand mit kühlem Schweiß bedeckt. Eine Last ist von ihrer Seele genommen, und ihr wird klar, dass sie den ganzen Tag lang nicht richtig durchgeatmet hat. Sie setzt sich auf die Bettkante und streicht ihm sanft das Haar aus der Stirn,
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