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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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für die Arbeiten der Kinder in Haus und Garten und für die Schulaufgaben erstellt hatte, weil sie nur zwei kleine Schreibtische besaßen, die sie abwechselnd benutzen mussten. Er erzählte von dem großen Garten und der Obsternte und von den Hasen, die sie hielten, und von der immer wiederkehrenden Trauer, wenn einer geschlachtet werden musste. Schließlich hatte er verboten, dass die neugeborenen Häschen Namen bekamen, weil dann der Abschied nicht so schwer wurde.
    Hanna war froh, dass sie nicht nach dem Namen des Jungschweins gefragt hatte. »Du hast das verboten, nicht deine Eltern?«
    »Bei uns war ich für solche Sachen zuständig. Vater dagegen musste die Tiere schlachten, und er hasste es. Kaum bekam er eine Gehaltserhöhung, wurden die Hasen abgeschafft.«
    Hanna dachte daran, wie glühend sie sich als Kind einen weißen Hasen gewünscht hatte, was aber in einer Wohnung voller Perserteppiche und Antiquitäten als völlig unmöglich abgelehnt worden war. »Als ich ein kleines Mädchen war – ich glaube, ich war noch nicht in der Schule«, erzählte sie, »durften meine Schwester und ich die Ferien auf dem Bauernhof der Familie unserer Haushaltshilfe verbringen. Die hatten auch viele Hasen, mindestens zwanzig hölzerne Käfige neben- und übereinander. Die Türen waren vorn mit Maschendraht verschlossen, durch den man Grashalme zu den Hasen reinstecken konnte. Und natürlich habe ich gleich am ersten Tag einen Käfig aufgemacht und einen der Hasen herausgeholt, um ihn zu streicheln. Aber der hat mich gebissen, und ich habe ihn fallen lassen, und schwupps war der Hase verschwunden. Und die beiden andern, die außerdem in dem Käfig waren, ebenso. Denn ich bin natürlich laut schreiend davongelaufen. Ich erinnere mich noch genau, wie empört ich war, dass dieses Tier mich gebissen hat, wo ich doch nur lieb zu ihm sein wollte. Und dann haben auch noch alle mit mir geschimpft wegen der Hasenflucht, es gab eine Riesenaufregung. Ich verstand die Welt nicht mehr.«
    Benno lachte und steuerte eine ähnliche Geschichte aus seiner Kindheit bei. Er drückte vorsichtig eine der kleinen, festen Kartoffeln in den letzten Rest der Schweinebratensoße auf seinem Teller.
    »Das ist doch bemerkenswert, dass uns von klein auf so ein intensives Gerechtigkeitsgefühl mitgegeben ist. Ich glaube, Kinder sind nie empörter, als wenn sie tatsächlich oder vermeintlich ungerecht behandelt werden«, sagte Hanna.
    »Das erleben wir auch bei Gericht immer wieder, dass Menschen bis zum Umfallen kämpfen, wenn sie sich ins Unrecht gesetzt fühlen, auch wenn sie dafür persönliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.«
    »Wieso bist du eigentlich Staatsanwalt geworden?«, fragte Hanna, nachdem ihre Teller klappernd abgetragen worden waren.
    »Die Frage müsste eigentlich lauten, warum ich Jurist geworden bin. Staatsanwalt ist nur eine der Stationen, die alle Juristen in Bayern im Staatsdienst durchlaufen müssen. Und dass ich Jura studiert habe, nun, das hat natürlich viele Gründe, aber es hat schon auch etwas mit dem Wunsch zu tun, für Gerechtigkeit zu sorgen.« Benno machte ein Gesicht, als sei ihm sein Geständnis etwas peinlich.
    »Ich finde das klasse!« Hanna hatte keine Probleme mit großen Worten. »Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstverständlich die meisten Menschen hinnehmen, dass sie hier ziemlich sicher und angstfrei leben können, dass auf die Justiz und die Polizei im Allgemeinen Verlass ist, dass du sie nicht bestechen musst, um anständig behandelt zu werden. Wenn das nicht wertvoll ist! Und es ist alles andere als selbstverständlich. Wann in der Geschichte war das denn schon der Fall?«
    Hanna nahm von Frau Gruse den Teller mit dem Nachtisch entgegen und sagte entschuldigend: »Ja, ich weiß, jetzt bin ich schon wieder bei der Geschichte. Aber wenn man sich näher damit beschäftigt … Ich habe vor Kurzem einen Artikel zu dem Thema geschrieben. Sie sind so teuer erkauft worden, die Demokratie, die Freiheit, der Rechtsstaat. Während des ganzen 19. Jahrhunderts sind so viele Menschen dafür ins Gefängnis geworfen, sind seelisch gebrochen oder hingerichtet worden. Und trotzdem ist diese Idee immer wieder in neuen Köpfen aufgetaucht. Am schlimmsten ging sie im 20. Jahrhundert unter; es brauchte zwei Weltkriege, um die alten Strukturen endgültig zu zerbrechen …« Sie half mit dem Finger nach, ein paar der frischen Blaubeeren neben das Eis auf ihren Löffel zu schieben. »Wir leben jetzt in dem Paradies, von dem

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