Das Haus am Nonnengraben
alles war still. Trotzdem zwang sie sich, aufzustehen, überall die Lichter anzumachen und Zimmer für Zimmer zu überprüfen. Nichts. Alles war ruhig und unberührt, keine Pfanne war von der Wand gefallen, kein Blatt auf dem Schreibtisch verschoben und kein Einbrecher saß unterm Tisch. Sie schalt sich hysterisch und ging wieder ins Bett. Aber sie fand nicht in den Schlaf zurück. Ständig meinte sie, Geräusche oder Schritte zu hören, und ihr Herz klopfte im Hals und in den Ohren, heftig und laut. Schließlich ging sie ins Bad und nahm eine Schlaftablette. Anna diabolica spottete: »Bist du vielleicht schon ein bisschen zu alt für Liebesabenteuer? Oder nur aus der Übung?« Hanna weigerte sich, ihr verzaustes Spiegelbild genauer anzusehen, und schlurfte ins Bett zurück. Aber die Angst blieb und begleitete sie in den Schlaf.
Albträume quälten sie. Sie suchte intensiv nach einem Weg, doch ihre Landkarte und die Umgebung wollten partout nicht übereinstimmen. So bemerkte sie nicht, obwohl sie es im Traum gleichzeitig wusste, dass etwas näher und näher kam, etwas sehr Gefährliches. Und dann war es über ihr, bevor sie richtig wach wurde. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, der Schatten sei Benno. Doch der Mann, der auf ihren Armen kniete, hatte überhaupt nichts Liebevolles mit ihr vor. In Hannas Kopf explodierte ein Feuerwerk, und ihre Zunge schien den ganzen Mund zu füllen, als er ihr keuchend den Hals immer fester zudrückte. Es tat qualvoll weh. Schierer Überlebenswille und vage Erinnerungen an den Karateunterricht veranlassten Hanna, einen Augenblick ganz still zu liegen, all ihre verbliebene Energie im rechten Knie zu sammeln und es ihrem Angreifer in den Unterleib zu rammen. Der lockerte mit einem überraschten Schmerzensschrei seinen Griff. Sie hatte ihn voll an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Kaum spürte Hanna etwas Bewegungsfreiheit, rollte sie sich mit einem Ruck Richtung Bettkante. Der Mann wurde mitgerissen und fiel vor dem Bett auf den Boden. Offenbar hatte er sich dabei verletzt, denn er stöhnte kurz auf. Sekunden später sah Hanna einen schwarzen Schatten vor dem helleren Fensterviereck vorbeihumpeln. Sie konnte es kaum glauben – er hatte aufgegeben, hatte sich nicht wieder auf sie gestürzt. Der Mann rumpelte die Treppe hinunter, und nach einer zähen, ewigen Zeitspanne hörte Hanna die Haustür und dann das Hoftor ins Schloss fallen. Noch wagte sie nicht, sich zu bewegen, saß keuchend und sprungbereit in der Dunkelheit auf ihrem Bett, voller Angst, der Albtraum würde zurückkehren.
Nur langsam fing ihr Verstand wieder an zu arbeiten und sagte ihr, dass Licht besser sei als Dunkelheit und dass die letzte Nummer, die sie am Abend angerufen hatte, die von Benno gewesen war, und dass sie deshalb nur den Hörer nehmen und auf Wahlwiederholung drücken musste, dann würde alles wieder gut.
Benno meldete sich nach dem zehnten Klingeln, äußerst ungehalten.
Doch als sie zu sprechen versuchte, kam kein Ton aus ihrer geschwollenen Kehle.
»Hallo, wer ist da?«, fragte Benno jetzt schon zum dritten Mal, inzwischen richtig wütend und offenbar entschlossen, aufzulegen.
Da gelang ihr ein Krächzen: »Hilfe.« Das hielt ihn wenigstens am Telefon. »Benno …«
»Hanna?« In Bennos Stimme mischten sich Unglauben und wachsende Furcht. »Hanna, was ist los?«
»Überfall«, brachte sie heraus.
»Wo bist du?«
»Zu Hause.«
»Ich komme sofort.«
Erschöpft ließ Hanna den Hörer fallen. Sie legte sich einen Augenblick hin, um Kraft zu schöpfen. Dann versuchte sie aufzustehen. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie Gelee, vor allem die Beine. Jeder Schritt war ein Wagnis, das sie nur bestand, wenn sie sich festhielt. Schließlich war sie im Bad. Ans Waschbecken gelehnt, ließ sie kaltes Wasser in den Zahnputzbecher laufen. Das Schlucken war eine Qual, aber das kühle Wasser linderte die Schmerzen ein wenig. Im Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. Ihre Augen waren dunkelrot, voller geplatzter Aderchen, auch ihr Hals war rot und schien zusehends dicker zu werden. Der Rest war leichenblass. Mit den ersten Lebensgeistern kehrte auch Hannas Humor zurück. Wenn Bennos Zuneigung diesen Anblick überlebt, dann ist ihm wirklich nicht mehr zu helfen, dachte sie. Sie machte ein Handtuch nass und legte es sich um den Hals. Dann tastete sie sich langsam die Treppe hinunter.
Das ganze Wohnzimmer war mit Papier übersät. Schubladen standen offen, auf ihrem Schreibtisch, auf dem die Lampe
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