Das Haus Am Potomac
mehrfach an, dann hielt sie die Zeitung so,
daß die Lampe direkt darauf schien.
Es war ein Schnappschuß, der am Strand aufgenommen
war. Da waren ihr Vater, ihre Mutter und Abigail
zusammen mit zwei anderen Leuten. Ihre Mutter war in
ein Buch vertieft. Die beiden Fremden lagen mit
geschlossenen Augen auf ihren Decken. Die Kamera hatte
ihren Vater und Abigail dabei erwischt, wie sie einander
ansahen. Es gab keinen Zweifel, daß sie ein inniges
Verhältnis verband.
In dem Schreibtisch war ein Vergrößerungsglas. Pat
suchte es hervor und hielt es über das Bild. Unter der Lupe
sah man, daß Abigail ganz verzückt aussah. Ihre Hände
berührten sich.
Pat faltete die Zeitung zusammen. Was hatte dieses Bild
zu bedeuten? Ein Gelegenheits-Flirt? Ihr Vater hatte auf
Frauen anziehend gewirkt, hatte sie wahrscheinlich dazu
ermuntert, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Abigail
war eine hübsche junge Witwe gewesen. Vielleicht war
das alles, worauf das hinausgelaufen war.
Wie immer, wenn sie Sorgen hatte, wandte sich Pat der
Musik zu. Sie schaltete im Wohnzimmer die
Weihnachtsbaumkerzen an und knipste, einem Impuls
folgend, den Kronleuchter aus. Sie ließ auf dem Flügel die
Finger über die Tasten gleiten, bis sie zu den weichen
Tönen von Beethovens Pathétique fand.
Sam war heute wieder der alte gewesen, so, wie sie ihn
in Erinnerung gehabt hatte, stark und zuversichtlich. Er
brauchte Zeit. Natürlich brauchte er das. Sie selbst auch.
Vor zwei Jahren hatten sie solche Gewissensqualen und
Schuldgefühle gehabt wegen ihres Verhältnisses. Das
würde jetzt anders sein.
Ihr Vater und Abigail Jennings. Hatten sie ein Verhältnis
gehabt? War sie nur ein flüchtiger Flirt in einer ganzen
Kette kurzer Affairen gewesen? Ihr Vater war vielleicht
ein Frauenheld? Wieso nicht? Er war attraktiv, das stand
fest, und so ein Verhalten entsprach ganz der Art der
damaligen aufstrebenden jungen Politiker – da brauchte
man sich nur die Kennedys anzusehen …
Eleanor Brown. Ob der Anwalt wohl erreicht hatte, daß
man sie gegen Kaution freiließ? Sam hatte noch nicht
angerufen. Eleanor ist unschuldig, sagte sich Pat – da bin
ich ganz sicher.
Liszts Liebestraum. Den spielte sie jetzt. Das und der
Beethoven. Auch neulich abends hatte sie sich unbewußt
für diese Stücke entschieden. Hatte ihre Mutter sie hier
gespielt? Die Stimmung der beiden Stücke war gleich,
wehmütig und voller Einsamkeit.
»Renée, hör mich an. Hör auf zu spielen, und hör mich
an.«
– »Ich kann nicht. Laß mich in Ruhe.« Die Stimmen –
seine besorgt und drängend, ihre voller Verzweiflung.
Sie stritten so viel, dachte Pat. Jedesmal, wenn sie sich
gestritten hatten, spielte sie stundenlang Klavier. Aber
manchmal, wenn sie glücklich war, setzte sie mich neben
sich auf die Bank. »Nein, Kerry, so. Leg deine Finger
hierher … – Sie kann die Noten spielen, die ich ihr
vorsumme. Sie ist eine Naturbegabung.«
Pat merkte, wie ihre Hände die ersten Noten von
Mendelssohns Opus 30, No. 3 zu spielen begannen, noch
ein Stück, das Schmerz ahnen ließ. Sie stand auf. Es waren
zu viele Geister in diesem Zimmer.
Gerade als sie die Treppe hinaufgehen wollte, rief Sam
an. »Sie wollen Eleanor Brown nicht freilassen. Sie
befürchten, daß sie die Kaution verfallen läßt und
untertaucht. Es sieht so aus, als würden sie den Mann, mit
dem sie zusammengelebt hat, verdächtigen, an einigen
Todesfällen in Pflegeheimen schuld zu sein.«
»Sam, ich kann den Gedanken daran, dieses Mädchen in
einer Zelle zu wissen, nicht ertragen.«
»Frank Crowley, der Anwalt, den ich ihr geschickt habe,
glaubt, daß sie die Wahrheit sagt. Er besorgt sich morgen
früh eine Abschrift des Prozeßprotokolls. Wir werden alles
für sie tun, was wir können, Pat. Es wird, fürchte ich,
vielleicht nicht viel sein … Wie geht es dir?«
»Ich wollte mich gerade hinlegen.«
»Alles gut abgeschlossen?«
»Fest verriegelt.«
»Gut. Pat, wahrscheinlich ist das Rennen gelaufen. Man
hat uns – eine ganze Reihe von uns – für morgen abend ins
Weiße Haus gebeten. Der Präsident will eine wichtige
Entscheidung bekanntgeben. Dein Name steht auf der
Liste der Medienpersönlichkeiten. Das habe ich
nachgeprüft.«
»Sam, glaubst du …?«
»Ich weiß es einfach nicht. Die Wetten stehen für
Abigail, aber der Präsident macht es richtig spannend und
läßt sich nicht in die Karten gucken. Keiner der
Kandidaten ist bisher unter den Schutz des
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