Das Haus an der Düne
Hastings, beim Denken können Sie mir nicht helfen. Und ich werde nichts anderes tun als – denken.»
Ich schüttelte abermals den Kopf.
«Sie könnten doch das Bedürfnis haben, den einen oder anderen Punkt mit mir diskutieren zu wollen.»
«Nun, nun – Sie sind ein wahrer Freund. Aber setzen Sie sich – darum bitte ich Sie – in den bequemen Lehnstuhl.»
Dieses Angebot konnte ich akzeptieren. Sofort begann das Zimmer um mich herum zu verschwimmen und zu versinken. Als Letztes erinnere ich mich, wie Poirot die zerknüllten Blätter aufhob und sie ordentlich in einen Papierkorb steckte.
Dann muss ich eingeschlafen sein.
Zehntes Kapitel
Nicks Geheimnis
A ls ich erwachte, war es bereits Tag.
Poirot saß in der gleichen Haltung auf demselben Fleck wie letzte Nacht, doch in seinem Gesicht hatte sich etwas verändert. In seinen Augen glitzerte dieses eigentümlich katzenartige, grüne Licht, das ich nur allzu gut kannte.
Mit Mühen und Kämpfen gelang es mir, meine steifen Gliedmaßen in eine aufrechte Position zu bringen. In meinem Alter sollte man es generell vermeiden, die Nacht in einem Sessel zu verbringen. Und doch hatte es seine gute Seite – ich erwachte nicht in jener angenehmen Mischung von Benommenheit und Schlaftrunkenheit, vielmehr nahm mein Verstand hellwach und aktiv seine am Vorabend unterbrochene Tätigkeit sofort wieder auf. «Poirot!», rief ich aus. «Ihnen ist bestimmt etwas eingefallen.» Er nickte. Er lehnte sich nach vorn und pochte mit den Fingerspitzen auf den Tisch.
«Beantworten Sie mir folgende drei Fragen, Hastings. Wieso hat Mademoiselle Nick in letzter Zeit so schlecht geschlafen? Warum hat sie sich ein schwarzes Abendkleid gekauft – wo sie niemals Schwarz trägt? Warum sagte sie gestern Abend: ‹Ich habe jetzt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt – jetzt nicht mehr›?»
Ich starrte ihn erstaunt an. Die Fragen schienen mir absolut nichts mit der Sache zu tun zu haben.
«Antworten Sie, Hastings, beantworten Sie diese Fragen.»
«Also – zu Frage eins – sie hat erzählt, sie habe in letzter Zeit Sorgen gehabt.»
«Genau. Worüber hat sie sich wohl Sorgen gemacht?»
«Und das schwarze Kleid – nun, jeder liebt ab und zu eine Abwechslung.»
«Für einen verheirateten Mann sind Ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der weiblichen Psyche äußerst dürftig. Wenn eine Frau glaubt, eine bestimmte Farbe stehe ihr nicht zu Gesicht, wird sie diese unter keinen Umständen tragen.»
«Und zur letzten Frage – ich finde es eine ganz normale Reaktion auf diesen furchtbaren Schock.»
«Nein, mon ami, es ist eben ganz und gar nicht normal. Von dem Tod ihrer Cousine zutiefst getroffen zu sein, sich Vorwürfe zu machen – ja, das ist völlig normal. Aber das andere, nein. Sie sprach über das Leben mit einer großen Müdigkeit, als ob es ihr nichts mehr bedeute. Diese Einstellung hat sie vorher nie an den Tag gelegt. Sie war widerspenstig – oh ja – sie wollte alles mit einem verächtlichen Achselzucken abtun – ja –, und als das Kartenhaus zusammenfiel, da bekam sie Angst. Angst, hören Sie, weil sie das Leben liebte, und nicht weil sie sterben wollte. Des Lebens überdrüssig – nein! Das war sie nie! Nicht einmal vor dem besagten Dinner. Hastings, wir haben es hier mit einer emotionalen Veränderung zu tun. Und das wiederum ist interessant. Denn worin liegt die Ursache für diese Veränderung?»
«In dem Schock über den Tod ihrer Cousine.»
«Das glaube ich nicht. Der Schock hat ihr die Zunge gelockert. Der Sinneswandel muss bereits vorher eingetreten sein. Was könnte ihn Ihrer Ansicht nach bewirkt haben?»
«Mir fällt gar nichts ein.»
«Denken Sie nach, Hastings. Benutzen Sie Ihre kleinen grauen Zellen.»
«Also wirklich…»
«Wann konnten wir Mademoiselle zuletzt beobachten?»
«Ja, also, ich glaube, das war beim Dinner.»
«Exakt. Danach sahen wir sie nur noch die Gäste empfangen, sie willkommen heißen – alles reine Formsachen. Was geschah am Ende des Dinners, Hastings?»
«Sie ging ans Telefon», sagte ich langsam.
« A la bonne heure. Endlich sind Sie darauf gekommen. Sie ging ans Telefon. Und war dann längere Zeit abwesend. Mindestens zwanzig Minuten. Das ist eine lange Zeit für ein Telefonat. Mit wem hat sie gesprochen? Worüber haben sie gesprochen? Hat sie wirklich telefoniert? Wir müssen herausfinden, Hastings, was in diesen zwanzig Minuten passiert ist. Denn dort, davon bin ich völlig überzeugt, finden wir den gesuchten
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