Das Haus an der Klippe
fürstlichsten der Piraten, dem alten Silvernob persönlich, Gaw Sempernel.
Kein umfangreicher Eintrag, erst einmal ein paar grundlegende Details. Aber nicht einmal die grundlegendsten Sachverhalte sind überprüft.
Kelly Cornelius.
In ihrem Paß lesen wir:
Geboren in London, am 4. April 1972. (In keinem Standesamt beurkundet.)
Paß ausgestellt am 23. Januar 1994. (Ein Sonntag. Da werden normalerweise keine Pässe ausgestellt. Vielleicht verfügt die Paßbehörde deshalb über keine Aufzeichnungen.)
Nächste Verwandte, die im Falle eines Unfalls zu informieren sind. Hier ist nur ein Name angegeben (und bei dem mußte ich so lachen, daß ich fast vom Stuhl gefallen wäre, und das wäre mein Pech gewesen, denn ohne fremde Hilfe komme ich kaum wieder hinein.)
Gawain Sempernel, unter hiesiger Adresse.
Sie weiß über dich Bescheid, Gawain.
So, wie sie sich im Cyberspace auskennt, wo wir alle unsere Spuren verfolgen, wie sollte sie da nicht Bescheid wissen? Außerdem weiß sie, daß du weißt, daß sie Bescheid weiß. Und es ist ihr egal.
Ich bewundere dich, meine Kelly. Und ich beneide dich. Denn du bist jung, und ich bin alt. Du bist schnell und geschmeidig und kannst dich auf zwei Rädern davonmachen, während ich nicht entfliehen kann, trotz meiner vier Räder. Und selbst körperlos, in unserer anderen Dimension, bin ich nur eine Cyber-Sibylle, die ihre Särge in den engen Grenzen ihrer Zauberinsel ordnet, und du bist die Cyber-Queen im grenzenlosen Datenmeer.
Das weiß ich, weil ich einiges nicht weiß.
Vor vier Jahren bist du in England und auf meiner Zauberinsel aufgetaucht, eine begnadete Finanzjongleurin, Lobeshymnen deiner früheren Arbeitgeber im Gepäck, größtenteils nord- und südamerikanische Finanzinstitute. Ein fleißiges Bienchen, in Anbetracht deiner Jugend, vielleicht fleißiger, als man ahnen konnte, denn als wir (ungebeten natürlich) die Personalakten der betreffenden Institute prüften, fanden wir dich zwar dort, aber seltsamerweise unvollständig; ein Job verwies auf den anderen, bis wir plötzlich wieder beim ersten ankamen, in Echtzeit natürlich völlig unmöglich, aber da hatte jemand ein zeitliches Möbiusband geschaffen, das ich trotz größter Bemühungen nicht geradebiegen konnte, ohne es zu zerstören.
Und natürlich waren deine tatsächlichen Auftraggeber Leute, deren Akten nicht im Äther herumschwirren, wie das letztlich jede auf elektronische Impulse reduzierte Information tut, sondern die mündliche Mitteilungen und mysteriöses Gekritzel auf Zetteln benutzen, Nicken und Zwinkern und alle jene alten Kommunikationswege, die Leuten wie mir nicht ohne weiteres offenstehen.
Aber wir brauchen sie nicht, denn wir wissen, was du gemacht hast. Deine besondere Begabung ist die Geldwäsche. Dazu ziehst du aber nicht ein eigenes System auf, das dem Zugriff und der Überwachung durch die Gesetzesorgane ausgesetzt wäre. Du bewegst dich in der Welt der internationalen Banken als qualifizierte und geschätzte Mitarbeiterin, und du benutzt ihre Ressourcen mit allen Schutzmechanismen und Verbindungen und komplizierten Transaktionen, um das Geld deiner Herren so rasch und unauffällig und unauffindbar hin- und herzuschieben, daß die dreckigen Milliarden eines Drogenbarons am Ende so rein und unschuldig wirken wie der Pensionsfonds einer Nonne. Nichts läuft illegal, nichts wird den Banken gestohlen, ja du erweist ihnen sogar wertvolle Dienste, so daß sie nachher, wenigstens finanziell, besser dastehen als vorher. Und da du nie lange bleibst, wirst du weder zum festen Inventar noch zum Ärgernis.
Und es stand zu vermuten, daß es nach deiner Rückkehr nach Europa genauso weitergehen würde.
Zuerst pendeltest du zwischen London und der Schweiz hin und her, ein Land, das schmutzigem Geld denselben Dienst erweist wie eine Ligusterhecke leeren Chipspackungen. Du hast, die Beine quer über Europa gespreizt wie eine Hinterhofhure, einen Fuß fest in der Credit Apollyon de Zurich verankert, den anderen bei Arblasters, einer jener Londoner Handelsbanken, die die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht haben – seit der gleichnamige Richard Arblaster vor gut zweihundert Jahren seine Anteile an der South Sea Company abstieß, kurz bevor die Spekulationsblase platzte und einen der größten Finanzskandale des achtzehnten Jahrhunderts auslöste.
Dann aber folgte ein sehr merkwürdiger Schritt: vom goldenen Glanz der City ins finsterste Yorkshire, wo du bei der Nortrust Bank anfingst,
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