Das Haus an der Klippe
Dach jedoch nicht von Säulen, sondern von Atlanten getragen wurde. Diese Statuen verkörperten Gestalten aus der Kriegsgeschichte, angefangen mit griechischen Helden bis hin zu den Tommys des Ersten Weltkriegs. Das Bauwerk hätte an jedem anderen Ort unsäglich kitschig gewirkt, aber auf der schmalen Landzunge, die es so vollständig ausfüllte, daß es in der Luft zu hängen schien, hatte es die bedrohlich-magische Ausstrahlung eines Tors zu einer anderen Welt.
Das also war der Kommandoposten, ein scheinbar passender Beiname für den Vergnügungspavillon, den ein Kanonenkönig errichtet hatte, damit seine Gäste das Schauspiel der Natur in all seiner explosiven Erhabenheit erleben konnten, ohne auf irgendwelche Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Feenie erinnerte sich, daß sie als junges Mädchen für rund zwei Dutzend Freunde ihres Vaters die Gastgeberin gespielt hatte, die in dem langgestreckten Panoramasaal ein epikureisches Mahl zu sich nahmen, während ein spektakuläres Gewitter den östlichen Himmel erhellte und Donnerschläge den Pavillon wie feindlicher Bombenhagel erschütterten. Damals waren es noch ein paar Hundert Meter bis zur abbröckelnden Küstenlinie gewesen. Heute war das Meer, dessen Unwetter so lange zur Unterhaltung von Zuschauern hatten herhalten müssen, so nahe gerückt, daß es bald, wie die alten Griechen gesagt hätten, Rache nehmen würde.
Als Kelly den Pavillon sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Feenie drehte sich um und ermahnte sie ungeduldig: »Schau doch nicht so ängstlich! Es sieht schlimmer aus, als es ist. Und das Wetter bleibt auf jeden Fall gut. Jetzt rein mit dir. Vergiß nicht, daß du dich heute abend unter gar keinen Umständen draußen blicken lassen darfst. Ich habe diese Leute, die dich aus dem Cottage vertrieben haben, zum Essen eingeladen …«
»Das ist ja wieder eine glänzende Idee. Warum nicht für morgen, wenn ich weg bin?«
Feenie seufzte. »Das Ei will wohl klüger sein als die Henne. Wenn sie heute abend bei mir sind, weiß ich wenigstens, wo sie stecken. Hätte ich sie nicht eingeladen, dann könnten sie unversehens hier vorbeikommen, was wohl nicht ungefährlich wäre. Außerdem wird die wirre Wendy mir bei den Vorbereitungen zur Hand gehen müssen, was sie davon abhalten wird, müßig durch die Gegend zu streifen.«
»Sie ist also nebenbei noch deine Hausmagd?«
»Ja, nur weiß sie nichts davon. Du brauchst dich also bloß hinzusetzen und für den Rest des Tages den Meerblick zu genießen. Warum ich mich überhaupt von dir habe bezirzen lassen, ist mir selber nicht ganz klar. Aber nachdem wir jetzt schon so weit sind, sollten wir nach Möglichkeit ein Fiasko vermeiden. Komm, bringen wir dich unter, bevor Wendy zurückkommt.«
Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Kelly Cornelius folgte ihr widerstrebend.
Aber als sie nur noch wenige Meter von dem Gebäude entfernt waren, blieb die alte Frau plötzlich wie angewurzelt stehen.
»Nanu«, sagte sie. »Da hat sich doch jemand daran zu schaffen gemacht. Das Schloß ist aufgebrochen.«
Feenie betrachtete auch die Tür am Fuß einer Treppe mit seitlicher Betonrutsche. Sie führte in einen Keller, wo ihr Vater Lebensmittel und Wein zur Bewirtung seiner Gäste gelagert hatte.
»Und an der Tür war auch jemand«, fuhr sie fort und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Haupteingang zu. »Die Gemeinde hat einen Balken davornageln lassen, um mögliche Besucher abzuschrecken. Kinder, vermutlich. Die machen doch heutzutage, was sie wollen.«
Kelly lachte. »Aus deinem Mund klingt das wirklich komisch!«
»Werd nicht frech«, wies Feenie sie zurecht. »Schauen wir uns die Sache mal von innen an. Jedenfalls hoffe ich für dich, daß sie es nicht als öffentliches Klo benutzt haben.«
»Nein, warte mal.« Kelly hörte auf zu lachen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
Kelly seufzte und holte tief Luft.
»Bevor wir reingehen, muß ich dir noch etwas sagen.«
Vier
Aus den Sibyllinischen Blättern
Has anyone here seen Kelly? Kelly from …
Eins ist merkwürdig an der Sache.
Nicht, wohin Kelly gegangen ist. Dauernd verschwinden Menschen. Ein anderer Name, ein anderes Land, ein anderes Leben. Aber niemand verschwindet spurlos, und früher oder später, mit den Wechselfällen des Lebens, finden wir raus, wohin es sie verschlagen hat. Wirklich merkwürdig ist es aber, wenn wir nicht wissen, woher sie kommen.
Vier Jahre weilst du nun schon hier auf meiner Zauberinsel, Kind, ausgesetzt von dem
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