Das Haus auf den Klippen
Gefühl, daß du mir nicht die ganze
Wahrheit sagst?«
»Weil du als guter Anwalt darauf getrimmt bist, auf versteckte Untertöne zu achten.« Sie zwang sich zu einem Lachen.
»Keine Anfälle?«
»Ich sagte doch, mir geht’s gut.« Sie bemühte sich, nicht gereizt oder hektisch zu klingen. Adam durchschaute sie einfach
immer. Sie versuchte das Thema zu wechseln. »Das Abendessen
war wirklich nett, aber Adam, wenn John je mit den Worten
beginnt: ›Das erinnert mich an eine Geschichte…‹, dann bring
dich bloß in Sicherheit. Er findet wirklich kein Ende.«
Adam schmunzelte. »’Laine muß verliebt sein. Sonst würde
sie das nicht hinnehmen. Am Flugplatz um fünf?«
»Ich werde dasein.«
Als Hannah gebadet und gefüttert worden war und inzwischen
zufrieden im Ställchen in der Küche saß, rief Menley die Psychiaterin in New York an, die sie wegen des Streßsyndroms behandelte. »Ich stecke etwas in Schwierigkeiten«, sagte sie mit
möglichst sachlicher Stimme.
»Erzählen Sie mir davon.«
Mit wohlerwogenen Worten berichtete sie Dr. Kaufman davon, wie sie aufgewacht war und sich eingebildet hatte, zunächst
das Geräusch einer Eisenbahn und dann Bobby rufen zu hören.
»Und Sie beschlossen, Hannah nicht hochzuheben, als sie
schrie?«
Sie versucht herauszufinden, ob ich Angst habe, ich könnte
dem Baby was tun, dachte Menley. »Ich hab so stark gezittert,
daß ich Angst hatte, ich lasse sie vielleicht fallen, wenn ich sie
hochhebe.«
»Hat sie geschrien?«
»Gebrüllt.«
»Hat Sie das sehr aus der Fassung gebracht, Menley?«
Nach einem Zögern flüsterte sie: »Ja, schon. Ich wollte, daß
sie aufhört.«
»Ich verstehe. Ich glaube, wir erhöhen lieber die Dosis Ihres
Mittels. Letzte Woche habe ich’s runtergesetzt, und möglicherweise war das zu früh. Ich muß es Ihnen mit Eilpost schicken.
Telefonisch kann ich kein Rezept über die Staatsgrenze weg
verschreiben.«
Ich könnte sie bitten, die Verschreibung zu Adams Kanzlei zu
schicken, dachte Menley. Er könnte sie dann mitbringen. Aber
ich will nicht, daß Adam etwas von meinem Gespräch mit der
Ärztin erfährt. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen die Adresse hier
schon gegeben habe«, sagte sie ruhig.
Als sie aufgelegt hatte, ging sie zu dem langen Tisch hinüber.
Am Tag zuvor hatte sie, nachdem Jan Paley wieder weg war,
rasch Phoebe Spragues Ordner mit den Bildern nach einer Darstellung von Kapitän Andrew Freeman durchgeschaut. Jetzt verbrachte sie mehrere Stunden damit, noch einmal alle Ordner
durchzugehen, ob ein Bild zu finden war. Aber sie entdeckte
keines.
Sie verglich ihre eigene Zeichnung mit der, die Jan Paley mitgebracht hatte. Zug um Zug stimmten beide völlig überein. Der
einzige Unterschied war, daß die Skizze aus der Brewster Library den Kapitän am Steuer seines Schiffes zeigte. Woher wußte
ich nur, wie er aussah? fragte sie sich abermals.
Sie griff nach ihrem Skizzenblock. Ein inneres Bild von Mehitabel stieg in ihrem Bewußtsein auf und wollte festgehalten
sein. Vom Wind verwehtes, schulterlanges Haar; ein zartes,
herzförmiges Gesicht; große, dunkle Augen; kleine Hände und
Füße; lächelnde Lippen; ein blaues Leinengewand mit langen
Ärmeln, hohem Kragen und Spitzeneinsatz und mit einem seitlich sich blähenden Rock.
Mit behenden, sicheren Strichen ihrer geübten Hände übertrug
sie die Eingebung geschickt auf Papier. Als sie damit fertig war,
hielt sie ihre Skizze gegen die Zeichnung, die Jan gebracht hatte,
und begriff, was sie getan hatte.
In der Zeichnung aus der Brewster Library bauschte sich eine
Spur von Mehitabels wehendem Rock hinter der Gestalt des
Kapitäns hervor.
Menley packte ihr Vergrößerungsglas. Die kleinen Striche auf
Andrew Freemans Ärmel auf der alten Zeichnung aus der Bücherei waren Fingerspitzen – Mehitabels Finger. Hatte sie hinter
ihrem Mann an Bord gestanden, als der unbekannte Künstler ihn
vor fast dreihundert Jahren porträtierte? Hat sie auch nur annähernd so ausgesehen, wie ich sie konzipiert habe? überlegte
Menley.
Plötzlich verängstigt, versteckte sie die drei Zeichnungen
ganz unten in einem der Ordner, nahm Hannah auf den Arm und
ging nach draußen in die Sonne.
Hannah machte fröhliche Laute und zog ihre Mutter an den
Haaren, und als Menley sanft die kleinen Finger löste, fiel ihr
etwas ein: Gestern nacht, als ich von dem dröhnenden Eisenbahnlärm aufgewacht bin, schrie Hannah doch.
»Hat der Zug dich auch aufgeweckt?« rief sie aus. »Hast du
deshalb
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