Das Haus auf den Klippen
alles, was verwertbar war: Fracht und
Bauteile und Inventar. Fässer und Truhen und Haushaltsgegenstände wurden über Bord auf die wartenden Fahrzeuge gehievt.
Sogar Geistliche betätigten sich als Plünderer. Menley war auf
eine Niederschrift von Phoebe über einen Pfarrer gestoßen, der
mitten in einer Predigt aus dem Fenster schaute, ein Schiff in
Seenot entdeckte und umgehend seine Gemeinde über das
»glückliche« Ereignis informierte. »Alle Mann los«, kreischte er
und rannte schleunigst aus dem Versammlungsraum, dicht gefolgt von seinen Raubkumpanen.
Eine andere Geschichte, die Phoebe festgehalten hatte, handelte von dem Geistlichen, der, nachdem man ihm einen Zettel
mit der Nachricht über ein sinkendes Schiff gereicht hatte, seine
Pfarrkinder anwies, still mit gesenktem Kopf zu beten, indes er
selbst sich auf der Suche nach Beute davonstahl. Als er fünf
Stunden später zurückkehrte – sein Diebesgut sicher verstaut –,
fand er seine folgsame Gemeinde erschöpft und mit steifem
Nacken noch immer vor.
Wunderbare Geschichten, dachte Menley, doch was sollen die
mit Tobias Knight zu tun haben? Sie las weiter; eine Stunde später entdeckte sie endlich einen Hinweis auf ihn. Es hieß von ihm,
er verurteile »diese Gaunerbanden, die die gesamte Ladung Mehl
und Rum aus dem gestrandeten Schoner Red Jacket geplündert
und damit die Krone um ihr Bergungsgut gebracht« hätten.
Tobias wurde mit der Leitung jener Ermittlungen betraut.
Über den Erfolg oder Fehlschlag seiner Mission war nichts erwähnt.
Aber wo ist der Zusammenhang mit Mehitabel? fragte sich
Menley. Kapitän Freeman war doch ganz gewiß kein Plünderer.
Und dann stieß sie auf eine weitere Erwähnung von Tobias
Knight. Im Jahr 1707 fand eine Wahl zu dem Zweck statt, ihn
als Magistratsmann und Beisitzer zu ersetzen und Samuel Tucker dazu zu ernennen, das Gebäude der Schafhürde zu vollenden, das Knight begonnen hatte. Die Begründung: »Da Tobias
Knight nicht mehr in unserer mitten erscheinet, zu dem großen
nachtheil der gemeinde.«
Phoebe Sprague hatte angemerkt: »Der ›große nachtheil‹ war
vermutlich, daß sie ihn schon für die Errichtung des Gebäudes
bezahlt hatten. Aber was ist aus ihm geworden? Kein Eintrag zu
seinem Tod. Ging er weg, um nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden? Der ›Krieg von Königin Anna Stuart‹, der Krieg
mit den Franzosen und Indianern, wurde damals ausgefochten.
Oder hatte sein Verschwinden mit der königlichen Untersuchungskommission zu tun, die zwei Jahre vorher ihre Arbeit
aufnahm?«
Die königliche Untersuchungskommission! dachte Menley.
Das gibt der Sache eine neue Wendung. Tobias Knight muß
vielleicht ein sonderbarer Kerl gewesen sein. Er überließ Mehitabel ihrem Schicksal. Er führte die Suche nach der entwendeten
Ladung der Red Jacket an, was nichts anderes hieß, als daß er
seine eigenen Mitbürger unter die Lupe nahm, und dann verduftete er und ließ den unfertigen Pferch zurück.
Sie richtete sich auf und blickte auf die Uhr. Es war halb drei.
Amy war schon seit knapp zwei Stunden allein mit der Kleinen
unterwegs. Besorgt sprang sie auf, lief zur Küchentür und war
erleichtert festzustellen, daß der Kinderwagen soeben auf den
Pfad gerollt kam, der den Anfang des Grundbesitzes markierte.
Ob ich wohl je so weit komme, daß ich mir nicht mehr übertriebene Sorgen um Hannah mache? fragte sie sich.
Hör auf, so zu denken, schärfte sie sich ein. Du hast noch
nicht mal einen einzigen Blick aufs Meer geworfen, seit du heute früh aufgestanden bist, kam ihr in den Sinn. Schau es dir doch
an. Das tut dir noch jedesmal gut.
Sie ging von der Küche, dem keeping room, zum großen
Wohnzimmer, öffnete die Frontfenster und genoß in vollen Zügen die salzige Luft, die ihr entgegenschlug. Von dem schneidenden Wind aufgepeitscht, war das Wasser von Schaumkronen
übersät. So kühl es jetzt auch sicher am Strand sein mußte,
überkam sie doch eine große Sehnsucht, dort entlangzuwandern
und das Wasser an ihren Fußknöcheln zu spüren. Was hatte
wohl Mehitabel über dieses Haus empfunden? Sie sah jetzt vor
sich, wie sie die Erzählung schreiben würde.
Sie kehrten von der Chinareise zurück und fanden das Haus fertig vor. Sie sahen es sich an, ein Zimmer nach dem anderen,
gaben ihrer Freude über die Pfosten und Balken und die Täfelung Ausdruck, über die schöne Anordnung der Mauersteine an
den offenen Kaminen – Steine, die Andrew in West Barnstable
bestellt hatte
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