Das Haus auf der Brücke
Vater hat sich gestern nacht total verfranzt. Vielleicht auch schon früher.«
»Bleibt doch hier«, schlage ich vor. »Ihr könnt hier prima Urlaub machen. Die Wiese, auf der ihr steht, gehört uns, Vater hat bestimmt nichts dagegen. Und dann kannst du sehen, was alles durch unser Haus geht und fährt.«
»Ja, ich weiß nicht...«, sagt Petra. »Eigentlich wollten wir an einen See.«
»Haben wir. Einen Baggersee. Drüben, keine zehn Minuten von hier. Der ist nicht so überlaufen.«
»Kann man da auch Boot fahren?«
»Prima, wenn man eins hat, stundenlang. Und meine Mutter müßtest du auch kennenlernen. Das ist eine tolle Frau. Sie übersetzt englische Krimis ins Deutsche. Das heißt, eine Weile hat sie nichts übersetzt, weil wir einen Kleinen haben, und zum Teil auch, weil sie sich immer so fürchtet. Aber jetzt übersetzt sie wieder einen.«
»Vor wem fürchtet sie sich?«
»Vor den Mördern.«
»Vor welchen Mördern?«
»Vor denen im Krimi natürlich. Sie ist eben sensibel, so nennt man das. Wir dürfen sie nicht allein lassen, wenn sie übersetzt. Einmal, da schrie sie ganz furchtbar.« — »Warum?«
»Weil ich an ihre Tür klopfte.«
»Deswegen?«
»Im Krimi klopfte gerade auch jemand an die Tür, und man wußte, es würde der Mörder sein. Und da klopfte ich, und Mutti konnte Buch und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten und schrie.«
»Mensch«, sagt Petra. »Ich glaub’, ich würde auch schreien.«
Ich will noch weitererzählen, weil ich gerade so gut in Fahrt bin, aber da geht drüben die Tür des Wohnwagens auf und eine finstere Stimme ruft: »Petra!«
»Oh«, seufzt sie und fährt zusammen. »Also dann, tschüüs!«
Ich sehe ihr nach, wie sie den leicht ansteigenden Weg zum Wohnwagen läuft. Dann fasse ich einen Entschluß. Ich muß Vater wecken.
Aber Vater stand schon in der Küche und schlug sich ein Ei in die Pfanne.
»Na«, sagte er, »schon auf? Soll ich gleich ein Ei für dich dazuschlagen?«
»Bitte, aber nicht zu schart anbraten.«
»Klar«, sagte der Vater. »Na, was gibt’s Neues?«
»Ich hab’ mich mit einem Engel unterhalten«, sagte ich. »Er heißt Petra.«
»Und er hockt wohl noch oben in einem Baum und hat vergessen, vor Sonnenaufgang in den Himmel zurückzufliegen? Falls er noch draußen ist, frag ihn, ob er nicht auch ein Spiegelei will. Dann schlag’ ich gleich ein drittes Ei in die Pfanne.«
»Das kannst du auf jeden Fall gleich für mich tun«, rief Mutti, die die Treppe herunterstieg und sich die Augen rieb. »Guten Morgen, Chef.«
Mutti umarmte Vater und tat so, als ob sie an seiner Brust noch einmal einschliefe.
»Guten Morgen, Krimihexe«, sagte Vater. »Na, bist du gestern weit gekommen?«
»Dreizehn Seiten«, sagte Mutti.
»Toll!« lobte Vater. »Brav, bist ein tüchtiges Weib. Unser Sohn ist übrigens auch tüchtig. Der hat heute schon eine Begegnung mit einem Engel gehabt.«
»Mit einem was?«
»Engel«, sagte Vater, »ist das so unwahrscheinlich? Bei uns? Er heißt, wie hieß er noch?«
»Petra«, sagte ich.
»Schade«, sagte Mutti noch immer verschlafen, »daß er schon weg ist. Ich hätte so gern mal ’nen Engel gesehen, vor allem mit Namen Petra.«
»Aber er ist doch noch nicht weg.«
»Was? Ist er vielleicht noch hier im Zimmer, und ich seh’ ihn bloß nicht?«
»Nein«, sagte ich, »er ist draußen.«
»Noch nicht im Himmel, von wannen er kömmt?« fragte Mutti.
»Er kommt nicht aus dem Himmel.«
»Sondern?«
»Von Ennepe-Ruhr, oder wie das Ding heißt. Da draußen im Wohnwagen.«
»Was?« schrie Mama. »Wohnwagen?«
»Was gibt’s denn da zu schreien?« fragte Vater.
Und ich sagte zu ihm: »Du mußt den Leuten sagen, daß sie auf der Wiese bleiben können, wo sie stehen. Sie haben sich in der Nacht verfranzt und wollten uns nicht wecken. Geh hin und sag ihrem Vater, sie sollen bleiben.«
»Nein!« schrie Mama. »Nein, nein! Laß sie fahren, ich bitte dich, Hans. Laß sie fahren!«
»Was hast du denn?« fragteVater. »Du zitterst ja wie, wie...«
»Espenlaub«, sagte ich, obwohl ich Espenlaub noch nie zittern gesehen habe.
»Was ich habe?« fragte Mutti. »Hast du vergessen, wie der Krimi heißt, den ich übersetze?«
»Total vergessen. Wie heißt er denn?«
»The murderer with the caravan«, sagte Mutti.
»Der Mörder mit dem Wohnwagen?«
»Ja.«
»Oh!« Vater nahm die Pfanne von der Platte und sagte: »Das ist allerdings delikat. Und da meinst du, er steht auch gleich pünktlich da draußen.«
Wir gingen
Weitere Kostenlose Bücher