Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
Verlangen danach. Von der Kassette ging eine stabilisierende Wirkung aus, vergleichbar mit der Geborgenheit, die das Rauschmittel erzeugte.
Sämtliche Probleme der letzten zwei Jahre hatten sich in nichts aufgelöst. Elsa konnte sich überall eine Heimat schaffen, wo sie wollte. Sie war niemandem Rechenschaft schuldig und von niemandem abhängig. Keanu würde eines Tages auf die besten Schulen gehen, wo seine Herkunft kaum eine Rolle spielen würde.
Dennoch stand ihr der Sinn nicht nach groÃen Veränderungen. Weder zog sie eine Rückkehr ins Mutterland noch eine zweite Reise ins Vaterland in Betracht. Die Villa hoch über Port Rabaul war genau der richtige Ort, um ein neues Leben zu beginnen oder zumindest einen neuen Lebensabschnitt. Ihre Unabhängigkeit wollte sie keinesfalls mit Einsamkeit bezahlen. Ihr unverhoffter Reichtum war nicht nur für sie bestimmt.
Noch auf der Yacht bat sie Iolana und Paulette, mit ihr in der Villa wohnen zu bleiben. Die beiden waren für sie inzwischen wie die Schwestern, die sie nie gehabt hatte. Mehr noch â sie kamen ihr wie Seelenverwandte vor. Iolana stand für das Milde, Gutherzige, Versöhnliche, Geduldige und Traurige. Sie wünschte keinem etwas Schlechtes, zu einem Verrat oder gar einem Verbrechen wäre sie niemals fähig. Eher litt sie selbst, als dass sie andere leiden lieÃ. Ein bisschen war sie wie die Heldinnen in den Romanen von Hedwig Courths-Mahler und verkörperte somit jene gefühlvolle Frau, die Elsa als Kind immer hatte werden wollen.
Paulette hingegen war durchsetzungsfähig, kantig, sarkastisch. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, war stets darauf bedacht, ja keine Schwäche zu zeigen, und hielt ihre emotionale Seite verborgen. Für Elsa stand fest, dass Paulette Titus umgebracht hatte, aber sie konnte es ihr nicht übelnehmen, auch wenn ihr Gewissen es befahl. Wie auch immer man das nannte, was Paulette getan hatte â Mord, Rache, Notwehr â, dadurch hatte sie letztendlich bewirkt, dass sie zusammenblieben. Die Französin verkörperte die starke, polarisierende und zu allem entschlossene Frau, die Elsa manchmal wie eine wohlwollende Lehrerin respektierte und manchmal wie eine strenge Gouvernante fürchtete, aber immer bewunderte.
Obwohl Iolanas und Paulettes Charaktere wie magnetische Pole waren, kamen die beiden Frauen seit einiger Zeit erstaunlich gut miteinander aus. Vielleicht weil Elsa als Mittlerin fungierte, die beide Freundinnen zu nehmen und mit der anderen zusammenzuführen wusste. Dies wiederum war nur möglich, da Elsa sich der einen wie der anderen freundschaftlich verbunden fühlte. Sie wünschte sich Iolanas Geduld und Paulettes Mut, die Gelassenheit der einen und die zupackende Art der anderen. Denn sowohl Iolana als auch Paulette waren â eine jede auf ihre Weise â charakterlich gefestigt.
Elsa war es nicht, und das spürte sie. Sie war seltsam unruhig, und das nicht nur wegen der Umstände von Titusâ Tod und der sogenannten Quarantäne. Das Gefühl hielt auch nach der Rückkehr in die Villa an, es verstärkte sich sogar noch. Der unverhoffte Reichtum gab Elsa zwar einerseits Sicherheit, wie es wohl fast jeder empfunden hätte, der sämtliche materiellen Sorgen mit einem Schlag los gewesen wäre. Andererseits kam er ihr wie ein riesiger Raum vor, der gefüllt werden wollte. Nur leider wusste sie nicht, womit. Erst die Abhängigkeit von ihrer Familie, später die Ehe mit Henning, deren Auflösung, die Schwangerschaft und gewisse andere Nöte hatten ihr die meisten Entscheidungen abgenommen, vorgegeben oder zumindest nahegelegt. Wenn sie doch einmal selbst entschieden hatte, dann war sie ihrem Stolz und schlimmen Fehleinschätzungen erlegen.
Gerne hätte sie mit Max darüber gesprochen, mit ihm Zeit verbracht, sich ihm wieder angenähert ⦠Aber er hatte Port Rabaul vorübergehend verlassen, um irgendwo an der Nordküste zu wirken. Elsa vermisste ihn mit jedem Tag mehr. Dachte er schlecht von ihr? Ging er ihr aus dem Weg? Die Fragen bohrten in ihr.
Der erste Vogel, dem Elsa nach der Rückkehr in die Villa die Käfigtür öffnete, wollte die angebotene Freiheit nicht annehmen. Der Singstar begab sich nur auf die Schwelle seines Gefängnisses, beäugte den nahen Buschwald skeptisch und zog sich dann wieder in die vertrauten Gefilde zurück. Er war in Gefangenschaft geboren, eigentlich war er eine
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