Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Kaugummi abmachen?
»Zwei«, sagte sie lächelnd und runzelte plötzlich die Stirn. »He, dein Finger blutet ja. Hast du ein Pflaster?«
»Ja.« Xenia ging ins Bad. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es stand direkt neben Warja. Nach kurzem Zögern nahm sie ab.
»Xenia? Wo bist du abgeblieben? Ich rufe von den Nachbarn an, es ist der reinste Albtraum, er schläft und schläft, ich dachte schon, er ist tot«, ratterte eine aufgeregte Frauenstimme. »Erst hat er fast vierundzwanzig Stunden in der Hängematte geschlafen, dann hat er sich im Esszimmer hingelegt. Er ist ein paarmal zum Pinkeln aufgestanden, und nun schläft er wieder. Und ich hab gleich Probleme mit dem Herzen gekriegt; du bist mit dem Kind einfach verschwunden, ohne mir Bescheid zu sagen. Nun antworte mir doch, was soll ich tun? Ich bin schließlich nicht die Hausherrin, außerdem muss ich dringend mal nach Moskau, aber ich kann ihn ja nicht allein im Haus lassen, wie? Hallo, Xenia, hörst du mich?«
»Hier ist nicht Xenia, ich hole sie gleich«, sagte Warja.
»Ach!«, tönte es erschrocken aus dem Hörer. »Wer ist denn da?«
»Ich heiße Warja, ich bin eine Bekannte von Galina. Da kommt Xenia schon.« Warja gab ihr den Hörer.
»Ja, ich bins. Warten Sie, Raïssa, nun schreien Sie doch nicht so, ich verstehe kein Wort. Na und, soll er schlafen. Nein, rufen Sie keinen Arzt, machen Sie sich keine Sorgen, er ist einfach müde, das kommt bei ihm vor. Vielleicht hat er ja in der Nacht gearbeitet und schläft sich am Tag aus. Ja, natürlich weiß ich das: viermal die Drei, und dann den blauen Knopf drücken. Das Ladegerät liegt in der obersten Kommodenschublade. Können Sie noch einen Tag dableiben? Ich muss mit Mascha in die Poliklinik, eine Überweisung für die Impfungen holen, und unser Arzt hat nur donnerstags Sprechstunde. Ich rufe Sie heute Abend an.«
Sie legte auf und verdrehte vielsagend die Augen.
»Sie spinnt.«
»Wer?«
»Unsere Haushälterin. Sie hat Probleme mit Oleg. Es gefällt ihr nicht, dass er die ganze Zeit schläft.«
»Vielleicht ist er ja tatsächlich krank? Ist doch wirklich seltsam, wenn einer tagelang schläft.«
»Genau, er ist krank!« Xenia lachte böse auf. »Na klar! Ich weiß sogar, was er hat. Narkolepsie, eine Art Schlafkrankheit.« Sie sank auf einen Stuhl, presste die Hände an die Schläfen und murmelte: »Ich kann nicht mehr. Ich gehe weg, auch wenn ich nicht weiß, wohin.«
»Oleg ist ein Junkie?«, fragte Warja leise.
Xenia nickte wortlos und zog die Toasts aus dem Ofen.
»Bei Narkolepsie schläft man viel, dabei können die Gliedmaßen vollkommen taub werden.« Xenias Augen funkelten kalt. »Ich glaube, man kann sogar im Schlaf sterben. Das wünsche ich ihm natürlich nicht. Iss den Toast, er schmeckt nur, solange er heiß ist.«
Eine Weile aßen sie schweigend, schließlich sagte Xenia: »Entschuldige. Ich sehe dich heute zum ersten Mal und lasse mich vor dir so gehen. Tut mir leid. Und erzähl das bitte niemandem.«
Warja nickte. »In Ordnung.«
»Vor allem nicht Galina. Sie hält das mit aller Macht geheim, sogar vor sich selber. Sie ist ein guter Mensch, sie liebt ihren Sohn irrsinnig. Aber sie hat eine seltsame Macke: Sie fürchtet die öffentliche Meinung weit mehr als die Realität. Verstehst du? Manchmal glaube ich, sie würde seinen Tod leichter verwinden, als wenn es herauskäme. Es darf um Gottes willen niemand erfahren, dass der Sohn der erfolgreichen Galina Solodkina ein Junkie ist. Das wäre für sie eine Katastrophe.«
»Hängt er schon lange an der Nadel?«
»Wenn du mich fragst – sein ganzes Leben.«
»Entschuldige, aber wie konntest du es dann riskieren, ein Kind von ihm zu kriegen?«
»Tja…« Xenia zuckte die Achseln. »Noch Tee?«
»Danke. Der Toast ist ausgezeichnet. Hör mal, du solltest das Messer trotzdem nicht im Bad liegenlassen. Das ist ein sehr wertvolles Stück. Sieht aus wie eine antike Waffe. Überhaupt ist eure Wohnung das reinste Museum.«
»Stimmt. Hier sind überall Antiquitäten. Warum nicht auch eine antike Waffe?«
Das Baby weinte, und Xenia stand rasch auf.
»Tja, sie ist schon wieder wach. Vergiss das Buch nicht. Es liegt im Esszimmer auf dem Couchtisch. Es war sehr nett, dich kennenzulernen.«
»Ich hab dir in der Küche meine Telefonnummer hingelegt«, sagte Warja, schon im Flur. »Falls du mal Hilfe brauchst, so allein mit dem Baby.«
»Danke.« Xenia lächelte.
Als sie draußen war, hörte sie, wie Xenia wieder zuschloss. Auf dem
Weitere Kostenlose Bücher