Das Haus der bösen Mädchen: Roman
sehr gern.« Warja lächelte.
»Wenn Sie zehn Minuten warten können? Ich muss erst Mascha stillen.«
Im Bad entdeckte Warja auf dem Regal überm Waschbecken einen seltsamen Gegenstand, eine Art zusammenklappbares Rasiermesser, sehr wertvoll, mit einem Ebenholzgriff mit feinen Intarsien aus Gold und Perlmutt. Warja nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete die eigentümlichen Symbole, die an assyrisch-babylonische Keilschrift erinnerten. Das Griffende zierte ein kunstvoller Totenschädel aus gelblichem Elfenbein, in den Augenhöhlen funkelten winzige rote Steine, möglicherweise Rubine. Warja berührte den Schädel und schrie überrascht auf. Mit einem leichten Knacken sprang eine helle stählerne Klinge heraus, rhombenförmig wie ein Dolch. Warja wollte sie wieder hineinschieben, aber die Spitze war so scharf, dass sie fürchtete, sich zu verletzen. Sie drückte noch einmal auf den Totenschädel, und die Klinge verschwand wieder.
Was hat diese wertvolle Antiquität im Bad zu suchen? Sie werden sich wohl kaum damit die Fingernägel reinigen, dachte sie, legte das Messer wieder zurück und verließ das Bad.
Xenia saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, das Baby schlief auf ihrem Arm.
»Ich lege sie gleich hin und koche Tee«, flüsterte sie.
»Keine Hast, ich habs nicht eilig.« Warja setzte sich in einen Sessel. »Uff, was für ein verrückter Tag. Hier bei Ihnen ist es schön, so ruhig.«
Sie wäre sehr hübsch, sogar schön ohne diesen panisch gehetzten Ausdruck in den Augen. Eine stillende Mutter sollte Ruhe und Glück ausstrahlen. Sie hat ein wunderbares, gesundes Kind, eine herrliche Wohnung; wie ihr Mann ist, weiß ich nicht, aber ihre Schwiegermutter liebt sie abgöttisch. Was fehlt ihr also, überlegte Warja. Und warum ist sie mit dem Kind allein von der Datscha zurückgekommen?
»Xenia, warum sind Sie nicht auf der Datscha?«
»Ich musste mit Mascha zum Arzt.«
»Ach, ist sie krank?«
»Nein, nein, nur eine Impfung. Augenblick, ich bin gleich wieder da.« Sie stand auf und ging auf Zehenspitzen hinaus.
Warja betrachtete die Wände voller Bilder. Polenow, Wrubel, Chagall. Womöglich Originale, zumindest ausgezeichnete Reproduktionen. Antike Möbel, englisches Porzellan in einem Mahagonischrank. Jede Menge wunderschöne, teure Nippes, wie in einem Antiquitätensalon.
»Ich hab Teewasser aufgesetzt«, verkündete Xenia. »Hier ist das Buch, das Sie haben wollten.« Xenia legte das Buch mit dem blutroten Einband auf den Couchtisch. »Interessieren Sie sich dafür?«
»Nicht besonders. Ich studiere an der Universität der Künste, ich schreibe eine Belegarbeit über den Einfluss des afro-asiatischen Mystizismus auf die Postmoderne des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Ah, ich verstehe.« Xenia nickte abwesend. »Kommen Sie, wir gehen in die Küche, Tee trinken. Ich habe ehrlich gesagt noch nicht gefrühstückt. Möchten Sie etwas essen?«
»Da sag ich nicht nein. Ich helfe Ihnen. Es ist bestimmt sehr anstrengend für Sie mit dem Baby. Ach, wollen wir uns nicht duzen?«
»Klar.« Endlich lächelte Xenia. »Es ist Obst da, Joghurt und Käse. Magst du Käsetoast?«
»Gern. Bleibst du jetzt länger in Moskau?«
»Ich weiß nicht.« Xenia stellte Tassen auf den Tisch, und Warja entdeckte an ihrem rechten Mittelfinger eine frische, ziemlich tiefe Schnittwunde.
Sie hat also vor kurzem mit dem Messer hantiert. Wahrscheinlich hatte sie es zum ersten Mal in der Hand. Ich hätte mich ja auch beinahe geschnitten, dachte Warja.
»Ach, sag mal, auf dem Badregal liegt ein Klappmesser, ein sehr wertvolles, antikes Stück. Das sollte man doch bestimmt nicht im Bad aufbewahren, wo es so feucht ist.«
Xenia erstarrte, schaute Warja einige Sekunden erschrocken an und fragte schließlich betont sorglos: »Verstehst du was von Antiquitäten? Kannst du mir sagen, was das für ein Messer ist?«
»Deine Schwiegermutter versteht mehr davon«, erwiderte Warja lächelnd. »Aber warum liegt das Ding bei euch im Bad rum?«
»Ich weiß es nicht.« Xenia zwinkerte verwirrt. »Ich habe keine Ahnung, woher es kommt.«
»Interessant. Und wer den Kaugummi auf den Türspion geklebt hat, weißt du auch nicht?«
»Wahrscheinlich ein Dummejungenstreich«, sagte Xenia rasch und schluckte krampfhaft. »Wie viele Toasts willst du?«
Kaum anzunehmen, dass in diesem vornehmen Haus mitten im heißen Sommer auch nur ein einziger Junge geblieben ist, dachte Warja. Und warum konnte Xenia die Tür nicht selber öffnen und den
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