Das Haus der bösen Mädchen: Roman
kein Jod, nicht einmal Wodka. Überhaupt nichts. Nur nackte Möbel – ein Tisch, zwei Stühle, eine Liege, ein paar Bücher, ein rußgeschwärzter Teekessel und ein paar leere Gläser in der Küche. Das Tonbandgerät, von dem Hardrock gedröhnt hatte, war mitsamt den Kassetten verschwunden. Marina war überzeugt, dass der Hausherr bald zurückkommen und das Ganze von vorn beginnen würde. Sie öffnete die Balkontür. Sie hoffte, die Nachbarn um Hilfe rufen zu können, begriff aber bald, dass das sinnlos war. Weder rechts noch links von ihr brannte Licht. Sie ging zurück ins Zimmer, taumelnd vor Schwäche, drehte sämtliche Wasserhähne auf – über der Wanne, dem Waschbecken und über der Spüle, drückte die Stöpsel rein und wartete.
Auf der nackten Liege verlor sie mehrmals das Bewusstsein, hörte, wenn sie wieder zu sich kam, das Wasser rauschen und sank erneut in ohnmachtsähnlichen Schlaf. Irgendwann wurde heftig an der Tür geklingelt, und sie zwang sich aufzustehen. Das Wasser reichte ihr bis zum Knöchel. Marina ging zur Tür, nahm ihre letzte Kraft zusammen und schrie dem Klingelnden zu, er solle die Tür aufbrechen und die Miliz und einen Krankenwagen rufen, sonst würde sie sterben.
Im Krankenhaus kam ein Untersuchungsführer an ihr Bett und erklärte, nach dem Sadisten würde gefahndet. Später stellte sich heraus, dass nicht er die Wohnung gemietet hatte, sondern ein anderer, der spurlos verschwunden war. Den Mann, den Marina beschrieb, hatten die Wohnungsinhaber nie gesehen, sie kannten nicht einmal seinen Namen.
Marina lag ziemlich lange im Krankenhaus, sie wurde mehrfach operiert, mit Medikamenten vollgestopft und schließlich als Invalidin entlassen – die Narbe im Gesicht blieb ihr fürimmer. Sie wusste nicht wohin; auf der Twerskaja war sie nun nicht mehr gefragt. Sie landete auf einem Abstellgleis auf dem Sawjolowoer Bahnhof, dort ließen die Streckenwärter in ungenutzten Waggons für wenig Geld Prostituierte mit anspruchslosen Kunden, meist Dienstreisenden, ihr Gewerbe ausüben. Oft zitterte sie vor Angst, meinte in der Bahnhofsmenge das braunäugige, sympathisch wirkende Gesicht mit dem stoppelkurzen hellen Haar zu sehen. Um zu vergessen, begann sie zu trinken. Eines Tages traf sie einen alten Mann mit Spitznamen Nosdrja, der nahm sie mit in seine wanzenverseuchte Behausung. So lebte sie von Flasche zu Flasche, bis das Ungeheuer mit den aufmerksamen braunen Augen und dem hellen Haar erneut aus dem Vergessen auftauchte.
»Ich hab ihn erkannt«, wiederholte sie und wischte sich mit ihrer roten Faust eine Träne ab, »er wird weiter töten.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Kolja Teletschkin öffnete die Augen. Ein riesiger rosa Mond schaute zum Fenster herein und lächelte. Kolja hörte die Blätter rascheln, den alten Mann auf dem Nachbarbett schwer atmen und jemanden im Flur herumgehen und leise reden.
Er horchte eine Weile in sich hinein und atmete gierig die Kühle der Moskauer Nacht ein.
Die Wunde am rechten Schulterblatt schmerzte, aber dieser Schmerz war ein Glück. Tote haben keine Schmerzen. Sanft glitten Kolja schlichte, glückliche Gedanken durch den Kopf – dass er am Leben war und in nur einem Monat sein Kind sehen würde, seinen Sohn. Und wie gut es war, dass man niemandem, weder Mutter und Großmutter noch Aljona etwas von der Stichwunde gesagt hatte. Sie dachten, er habe nur einen kleinen Verkehrsunfall gehabt, sei leicht angefahren worden.
Er hatte Glück gehabt. Die Klinge war fünf Millimeter nebendem Herzen eingedrungen und hatte kein lebenswichtiges Organ verletzt. Das Auto, vor dem er auf die Fahrbahn gefallen war, hatte ihn nicht angefahren, der Fahrer hatte buchstäblich einen Zentimeter vor Kolja halten können und per Handy sofort einen Krankenwagen gerufen.
Kolja war zu sich gekommen, als man ihn auf die Trage legte und noch nichts von seiner Verletzung wusste – die Stichwunde wurde erst im Unfallkrankenhaus entdeckt. Der Erste, der ihn schon auf der Intensivstation besuchte, war Untersuchungsführer Borodin gewesen. Er hatte bei Kolja zu Hause angerufen, nachdem er dessen Nachricht auf seinem Anrufbeantworter abgehört hatte, und nur Aljona erreicht. Sie war vollkommen aufgelöst und wollte gerade ins Krankenhaus. Der Revierchef hatte sie benachrichtigt, und dieser Idiot hatte ihr alles in den schwärzesten Farben geschildert.
Borodin hatte sich fast eine Stunde mit Kolja unterhalten und ihm versprochen, seine Frau, seine Mutter und seine Großmutter zu
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