Das Haus der Bronskis
drängten sich Schulter an Schulter, standen zusammengepfercht in den Westtüren. Männer knautschten ihre Mützen in knotigen Fäusten; Frauen knieten in den Seitenschiffen. Alle sandten sie heiße Gebete empor – dringende Bitten an Gott, er möge die Deutschen fernhalten.
Die Russen waren auf dem Rückzug. Von Westen kamen Gerüchte, ganze Dörfer seien auf der Flucht. Im gesamten Land schickten Haushalte ihr Vieh nach Osten, fort vom Zugriff des Kaisers. Fahrende Gesellen erzählten von Landstraßen, die von Kanonen blockiert waren, von schlammbedeckten Soldaten und schwerfällig trottenden Viehherden.
Eines Nachmittags stand Helena auf dem Balkon. Ein Heuwagen bog von der Hauptstraße in die Mała Pohulanka ein. Dahinter kam noch einer und dann ein größerer Wagen, an dem eine Kette von Zuchtstuten angebunden war; ihre Fohlen trabten ungelenk nebenher. Helena erkannte die litauischen Zmudziakipferde ihrer Großmutter; da wußte sie, daß sie alle fort mußten.
Die O’Breifnes flohen zuerst nach Süden. Die Pferde wurden vorausgeschickt. Sie selber reisten zu mit dem Zug: Helenas Mutter, Helena, ihr Bruder und ihre Schwester – beide sehr viel jünger als sie –, Panna Konstancja und Tekla.
In den kommenden Jahren sollten Panna Konstancja und Tekla die Familie überallhin begleiten. Panna Konstancja war eine ausladende Matrone, scharfzüngig und humorvoll. Sie hatte Helena so gut wie allein aufgezogen und war für sie eine viel weniger ferne Gestalt als ihre Mutter. Tekla war die Köchin der Familie, das vaterlose Kind einer Landstreicherin, die Helenas Mutter aufgenommen hatte.
Eine Fahrt von fünfunddreißig Kilometern brachte die Gesellschaft vom Bahnhof in Nowojelnia nach Druków. Es war ein sich schläfrig hinschleppender Abend. Den Pferden wurden die von Fliegen gepeinigten Köpfe schwer. Helenas Mutter fächelte sich mit einem Buch Kühlung zu. Tekla hatte Durchfall, und sie mußten oft anhalten.
Helena ängstigte dieser Rückzug. Würde er in Druków zu Ende sein? Was, wenn die Deutschen gleich Napoleon nicht aufzuhalten wären und sie selber weitergetrieben würden, tiefer nach Rußland hinein? Der Osten! Rußland! Helena fuhr erschrocken auf bei dem Gedanken an die schneebedeckte Steppe, die grauen Hügel, die ungepflegten Bärte der orthodoxen Priester, die Reihen hochwangiger Tataren vor einer verschneiten Landschaft. Dann fiel sie in der vertrauten Gegend von Panna Konstancjas Brust in Schlaf.
Als sie aufwachte, waren sie schon beinahe da. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und die Pferde bogen von der Landstraße in die gewundene Auffahrtsallee von Druków ein. Tekla tat einen letzten Sprung von der
bryczka
und rannte zum nächsten Busch.
Druków war das Heim von Onkel Nicholas O’Breifne, einem belesenen Mann mit sanfter Stimme, der keine Kinder hatte und Helena wie ein eigenes behandelte. Sie blieben einen Großteil jenes Sommers in Druków.
Es war ein ruhiger Sommer, Kriegsnachrichten unterbrachen ihn nur selten. Helena verbrachte viel Zeit – wenn sie nicht von ihrer Mutter behelfsmäßig unterrichtet wurde – mit Herumwandern und Reiten. Sie machte Spaziergänge mit Onkel Nicholas, die sie über die Allee hinausführten. Sie liebte es, ihn die Bäume und Blumen benennen und jeden Vogelruf bestimmen zu hören.
Eines Nachmittags betraten sie auf dem Rückweg die Kirche von Druków. Drinnen war es kühl und dunkel. Schweigend gingen sie bis zum Altarraum vor und knieten nieder – Onkel Nicholas riesig und tonnenförmig in seinem alten Kamelottmantel, Helena neben ihm schlank, mit einem blauen Samtband im wirren Haar.
Onkel Nicholas zeigte ihr die Gedenktafeln für seinen Vater, seinen Großvater und andere O’Breifnes.
»Onkel Nicholas«, fragte sie, »lebt deine Familie hier schon sehr lange?«
Der erste O’Breifne in Druków, erläuterte er, war der General gewesen, ihr Urgroßvater. Die Russen waren sehr stolz auf ihn, obwohl er kein Russe war. In Serbien hatte er die russische Armee einst vor den Türken gerettet. In der Nacht vor der Schlacht war eine Nonne namens Dovergill zu ihm gekommen und hatte ihn gewarnt, die Türken würden am nächsten Morgen angreifen. Er rüstete seine Stellungen entsprechend und blieb Sieger. Doch als der General in den umliegenden Klöstern nach Dovergill fragte, kam er nicht weit. »Dovergill? Devorgill? Wir kennen keine Nonne dieses Namens.«
Erst später fand er heraus, wer sie war – eine Ahnin,
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