Das Haus der Bronskis
hielt ein Papiermesser in der Hand und schnipste irgendwelchen imaginären Staub von seinem Stempelkissen. Helena schwieg.
»Du darfst nicht in dieselbe Falle laufen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch dasein werde und dir helfen kann, aber du mußt mir versprechen, daß du dir Mühe geben willst. Wirst du das tun?«
»Ja, Vater.«
Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Er ergriff ihre Hände. »Du bist schön, meine Helenka. Du bist eine Diane Chasseuse, eine Juno . . .«
Helena versuchte wegzusehen.
»Aber bitte mach etwas daraus! Trag nicht diese schrecklichen Knöpfchen und Rüschchen. Du brauchst geradeund schlichte Linien. Meinst du nicht, daß du dich in solchen Kleidern wohler fühlen würdest?«
»Ich habe nichts Derartiges.«
»Ich weiß, ich weiß. Es ist Krieg, und deine Mutter sagt, daß jetzt nicht die Zeit ist, gute Kleider zu kaufen. Stimmt’s?«
Helena lächelte.
»Ja,
tatuś
.«
Er wandte sich um, durchquerte den Raum und verschwand durch eine Tür in den Bücherregalen. Mit einem Stoß von Schachteln kam er zurück. Er stellte sie auf den Schreibtisch vor Helena.
»Ich habe dies in Petersburg für dich gekauft. Nur zu«, sagte er, »mach sie auf.«
Sie knotete die oberste Schachtel auf und schlug die Stofflagen zurück. Darunter lag ein geschneidertes Reitkleid. In der nächsten Schachtel war ein aus schwerer weißer Seide drapierter Hut mit einem winzigen Veilchensträußchen. In der nächsten ein weinroter langer Mantel. In einer anderen war ein ganzes Sortiment dünner Sommerkleider und eine gelbweiß gestreifte Überschürze und ein Abendkleid aus zartrosa Seide. Und da waren Schachteln mit Schuhen und Gürteln und Handschuhen.
Helena sah ihren Vater an.
»Probier sie an.«
Sie ging durch die Regaltür in sein Ankleidezimmer. Sie setzte die Schachteln ab. Das Zimmer roch nach ihrem Vater. Mitten im Raum stand ein hoher Spiegel, der auf halber Höhe ein Gelenk hatte, und Helena kippte ihn zu sich her, damit sie sich sehen konnte. Er hatte recht – ihr Aufzug war unmöglich!
Sie probierte alle Sachen an und kehrte schließlich im Abendkleid in die Bibliothek zurück.
»Und nun Schluß mit diesem Pferdeschwanz!« Mit einem Handgriff löste ihr Vater ihre Haarspange. Er faßte ihr Haar, legte es ihr um den Kopf und hielt es oben am Scheitel locker zusammen. Ein oder zwei dicke Locken ringelten sich an ihren Schläfen hinab.
»So, siehst du?« sagte er.
»Danke, Tatuś.«
»Mach dir keine Gedanken.« Er neigte sich vor, um ihre Stirn zu küssen. »Ich werde deiner Mutter alles erklären.«
Ihre Mutter hielt ihn für verrückt. Sie sagte, es sei eine Sünde, soviel Geld für Kleidung auszugeben. Jetzt, in diesen Zeiten! Ach! Doch angesichts dessen, daß sein Urlaub in Wilna so kurz war, ließ sie die Angelegenheit fallen.
Es war Mitte Mai 1915. In Wilna blühten die Bäume; weißer Flieder und Vogelkirsche belebten die Straßen mit bräutlichem Flor; die Parks waren mit Kamille gesprenkelt. Helena wurde rastlos. Sie schrieb etwas von einem Gefühl unbestimmter Erwartung, das sie mit dem ganzen Körper spürte. Irgend etwas bereitete sich vor, aber sie konnte es nicht sehen, konnte es nicht anfassen, und sie wußte seinen Namen nicht. Es hatte nichts mit dem Krieg zu tun. Fühlten alle sich so? Sie hatte keine Ahnung. Sie hatte niemanden, den sie fragen konnte.
Bisweilen war dieses Gefühl der Erwartung übermächtig. Sie fing an, an trüben Nachmittagen allein durch die Stadt zu wandern, blinzelnd in dem eigenartigen Licht, ständig auf der Hut, ständig von vertrauten Dingen überrascht. Für sie kam der Frühling nie wieder, ohne ihr nicht etwas vom Mai 1915 zurückzubringen.
An den meisten Tagen war Wind. Wenn er in den Alleen durch die Ebereschen fegte, rauschte es wie Wasser; er zerrte an den Roßkastanien, ließ ihre breiten Blattfingerhin und her schlagen. Helena nahm die süßsauren Gerüche der Wilnaer Märkte in sich auf, die Rufe der Hausierer, die schleichenden Gestalten der Kesselflicker. Zur Mittagszeit fühlte sie ungestümes Leben in sich; am späten Nachmittag war sie erschöpft.
Abends brachte ein kühlerer Wind den Klang der Kirchenglocken. Sie suchte einen Gottesdienst nach dem anderen auf, betete, ganz ihrer ernsthaften und frühreifen Frömmigkeit hingegeben, starrte auf die Wundertätige Madonna vom Spitzen Tor, der Ostra Brama. In allen Wilnaer Kirchen war das Allerheiligste ausgestellt. Die Menschen verließen die Kirchenbänke,
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