Das Haus der Bronskis
Gästeliste, während der Zigarettenrauch wie eine Regenwolke über ihnen hing.
Tante Anna war voller Geschichten für Helena. »Weißt du, mit achtzehn werden die Jungen von ihren Vätern zu Frauen geschickt. Du wirst bald herausfinden, was für türkische Sitten sie aufgegabelt haben.«
Panna Konstancja raffte, was sie konnte, für Helenas Mitgift zusammen, nähte baumwollene Teekleider und Taschentücher und durchforstete den Dachboden nach Bettwäsche.
Ende Juni traf Adam ein, um die letzten zwei Wochen vor der Hochzeit dazusein. Mit ihm kam sein Vetter Józef Kossak.
Sie brachten beunruhigende Nachrichten. Die Rote Armee massierte sich wieder im Osten. Im Süden, in der Ukraine, hatte Budjonnyj bereits die polnischen Streitkräfte angegriffen. Doch den Hauptstoß erwartete man in Weißrußland. Am 2. Juli erließ Tuchatschewskij, der Oberkommandierende der sowjetischen Streitkräfte, seinen Befehl:
Soldaten der Roten Armee!
Die Zeit der Abrechnung ist gekommen.
Die Armee des Roten Banners und die Armee des verräterischen Weißen Adlers stehen einander in tödlichem Entscheidungskampf gegenüber.
Über den Leichnam des Weißen Polen führt leuchtend der Weg zum Weltbrand.
Der Angriff auf Polen war das erste grenzüberschreitende Wagnis der Bolschewisten. Ihr Plan war, eine Verbindung zu den rasch angewachsenen kommunistischen Zellen inDeutschland herzustellen, und von da aus nach Westeuropa. Nur Polen stand ihnen im Weg, ein Land, das erst seit zwei Jahren existierte, und eines, das nach allgemeiner Einschätzung schon zu groß geworden war, um sich verteidigen zu können.
Am 4. Juli überschritt die Rote Armee die Beresina und nahm acht Tage später Minsk ein. Am 14. Juli, dem Tag von Adams und Helenas Hochzeit, fielen sie in Wilna ein, und die Stadt ergab sich. Nicht einer von Adams Familie war imstande, nach Platków durchzukommen. Die Kapelle war praktisch leer.
Helena trug ein schlichtes weißes Kleid und ein Diadem aus Maiglöckchen. Sperlinge sangen im Gebälk der Kapelle; ein blinder Fiedler begleitete das »Ave Maria«. Helena wurde – genau wie die Zigeunerin vor fünf Jahren vorhergesagt hatte – von Józef Kossak zum Altar geführt.
Onkel Bischof vollzog die Trauung. Er stand vor ihnen und segnete sie. »Erwartet kein Glück, meine Kinder!« und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Pathetischer Pfaffe«, murmelte Tante Anna.
Hinten in der Kapelle saß einsam, mit einem Gesicht, als hätte er Gift geschluckt, Touren-Józef. Ein Jahr später war er mit einer Kriegswitwe aus Siena verheiratet und lebte fortan in Cannes. (Helena sah in nur einmal wieder, in den späten dreißiger Jahren, einen müden rotgesichtigen alten Mann. Sie wußte nicht, ob es das Exil oder die Kriegswitwe gewesen war, was ihn zerstört hatte.)
Stefan hatte die Platkówer Kutsche frisch lackiert. Da die Kavallerie alle geeigneten Pferde beschlagnahmt hatte, hatte er Siwka und Gniadka angeschirrt, Platkóws Ackerpferde, die überlebt hatten.
Um neun Uhr standen Adam und Helena an diesem Abend auf der Veranda von Platków. Die Dämmerungwich der Dunkelheit, und sie betraten das Haus. Helena ging auf ihr gewohntes Zimmer. Adam war das Zimmer neben ihr zugewiesen. Ein Zimmer weiter war Helenas Mutter, ihr gegenüber Onkel Bischof. Panna Konstancja war im Obergeschoß.
Adam kam im Morgenrock zu Helena ins Zimmer. Er setzte sich auf ihr Bett und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder und sagte höflich: »Gute Nacht, Adam.«
Dann knieten sie zum Gebet nieder. Er küßte sie noch einmal auf die Stirn und kehrte in sein Zimmer zurück.
Helena wanderte weiterhin mit ihrem Rosenkranz durch die Alleen, starrte in die hohen Bäume, summte lebhafte Melodien, bückte sich, um im Gras Blumen zu pflücken. Es kostete Adam einige Zeit, ihr gewisse Dinge zu erklären und ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie fand die ganze Sache etwas komisch. Ihre eigentliche Hochzeitsnacht fand in jenem Winter statt, in einer Schneenacht in einem Warschauer Hotel. Und in den Monaten davor schlossen sie zu Helenas großer Überraschung eine bemerkenswerte Freundschaft, eine Freundschaft ohne Geheimnisse oder Dünkel, deren Ausmaß mit jedem Tag zunahm und die die Grundlage schuf für die einzige wirkliche Liebe, die sie je erlebte.
Am Tag nach der Hochzeit war es wieder heiß. Helena und Adam saßen am See. Adam las Passagen aus Majewskis
Kapital
vor und sang die
dubinoczka
. Sie unterhielten sich über die
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