Das Haus der Feuerfrau (German Edition)
unberechenbaren Mächten ein Schnippchen zu schlagen und sich in ein normales Leben – was immer man darunter verstehen mochte – zurückzuziehen ... und wie oft das Haus sie mit seinen Mauern umschlossen hatte, Zuflucht und Kerker zugleich. Es schien sich von allen Seiten an mich zu pressen, und Dutzende unsichtbarer Existenzen umdrängten mich wispernd, bemühten sich mich zurückzuhalten und mir den Rücken zu stärken. Sie kamen mir vor wie Kinder, die ihrer Mutter Mut machen, damit diese wiederum sie beschützt ... und ich brauchte dringend jemanden, der mir Mut machte, auch wenn diese Wesen noch um vieles schwächer und zerbrechlicher waren als ich.
Ich trat ans offene Fenster und blickte hinaus. Im Zimmer hinter mir brannte nur eine schwache Lampe, sodass ich die nächtliche Landschaft deutlich erkennen konnte. Die Larabaya-Straße war von einer Perlenkette oranger Nebellampen erleuchtet. Der Sandsteinkasten rechts von uns lag in düsterem Dunkel. Soviel ich wusste, wohnte niemand darin außer einem greisen Hausmeisterpaar, das gelegentlich lüftete und das Gebäude notdürftig sauber hielt. Von links jedoch glitzerten die fröhlichen kleinen Lichter der Bungalowsiedlung herüber, und von dort kam auch der gedämpfte Lärm von Radiomusik, Stimmen und Motorengeräusch. Ich war froh darüber. Menschliche Nähe, auch wenn sie sehr indirekt war, war genau das, was ich brauchte.
Dann spürte ich plötzlich noch eine andere Nähe.
Etwas hatte sich lautlos aus den Schatten gelöst und war an mich herangetreten, etwas, dessen Gestalt ich nicht sehen konnte. Nur die kleine Hand spürte ich, die nach meiner tastete und sich scheu darum schloss.
„Hallo, du“, sagte ich leise.
Keine Antwort kam, aber die federleichte Berührung an meiner Hand wurde deutlicher fühlbar.
„Wer bist du?“, fragte ich.
Im Zimmer blieb es totenstill, aber irgendetwas übermittelte mir die Vorstellung, dass der Name „Mathilde“ genannt worden war.
„Ich weiß nicht“, flüsterte ich, „ob ich dich richtig verstanden habe. Wenn du wirklich Mathilde heißt, gib mir ein Zeichen.“
Im selben Augenblick flackerte die Lampe hinter dem Sofa – ein, zwei, drei Mal.
„Was willst du?“, fragte ich. „Kann ich etwas für dich tun?“
Keine Antwort kam. Da fiel mir ein, was ich in Marie von Schwengens Tagebuch gelesen und wovon Wolfram Hartmann mir erzählt hatte, und einem jähen Impuls folgend griff ich nach der Glaskanne der Kaffeemaschine, die ich bereits für den Morgenkaffee mit Wasser gefüllt hatte. Glas fand ich keines, also stellte ich die Kanne, wie sie war, auf den Tisch. „Trink“, flüsterte ich.
Sekunden tickten vorbei. Dann wurde ein leises Plätschern vernehmbar. Das unsichtbare Kind hatte sich wie ein Tierchen über die Kanne gebeugt, denn sie kippte nicht, vielmehr wurde das Wasser bewegt wie von einer schlappernden Zunge. Ich sah ganz deutlich die kleinen Wellen und Wirbel. Auch das Geräusch des Trinkens war unmissverständlich zu hören.
Mathilde musste sehr durstig gewesen sein, denn sie trank beinahe die ganze Kanne leer. Nur ein winziger Rest blieb – vielleicht aus einer antiquierten Höflichkeit heraus – darin zurück.
„Ich werde dir jeden Tag etwas zu trinken hinstellen“, versprach ich ihr. „Nicht in dieser hässlichen Kanne, sondern in deinem eigenen Becher. Hörst du? Du bekommst deinen eigenen hübschen Becher. Ich habe einen aus gelbem Porzellan mit blauen Spiralen darauf. Würde der dir gefallen?“
Es schien mir, dass das unsichtbare Kind sich bemühte mir eine Botschaft zu schicken, aber es kam nicht durch damit. Andere Kräfte, böse und feindselige Kräfte, versperrten ihm den Weg. Ich spürte, wie es eine verzweifelte Anstrengung machte, aber dann resignierte es ganz plötzlich, ließ meine Hand los und war verschwunden. Es meldete sich auch nicht mehr, als ich seinen Namen rief.
Zuletzt schloss ich das Fenster, um die Nachtinsekten auszusperren, und ging zu Bett.
Einschlafen konnte ich freilich nicht.
In meinem Schlafzimmer war es, da sein Fensterchen auf das verwilderte Nachbargrundstück voll Waldrebe und schwarzgrüner Tannen hinausging, beunruhigend finster. In meiner alten Wohnung hatte ich eine Straßenleuchte direkt vor dem Fenster und genau gegenüber die Lampen eines Parkplatzes, so dass ich im Bett hätte Zeitung lesen können. Ich hasste es, im Stockfinstern zu liegen. Es war ein Gefühl, wie Poe‘s „Lebendig Begrabener“ es gehabt hatte. Ein Zentnergewicht
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