Das Haus der glücklichen Alten
Weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er über mich geschrieben hatte, und mir war, als hätte er mit mir eine Intimität hergestellt, ohne mich dafür um Erlaubnis zu bitten. Ich war nicht schwul und hatte auch keine Angst vor irgendwem, aber ich hatte Respekt vor ihm, weil er Doktor war, und ich hatte mich daran gewöhnt, an ihm vorbeizugehen, ohne ihn zu belästigen. Diese Grenze habe ich nie überschritten. Ich war feige, und eigentlich finde ich es schade, dass ich mich nie getraut habe. Neunzehnhundertdreiunddreißig kam der Laden auf die Titelseite der Zeitschrift Presença. Stellen Sie sich das vor. Fünf Jahre, nachdem das Gedicht geschrieben wurde. Das war mein Gedicht, der Tabakladen auf dem Umschlag der größten portugiesischen Literaturzeitschrift, maßgeblich geleitet von José Régio. Erst vierunddreißig erfuhr ich davon, und fünfunddreißig starb Pessoa dann. Ich fühlte mich, als wäre ich in der Metaphysik untergegangen. Ich wusste nicht, ob ich protestieren sollte, weil er mich betrogen und als Mensch ohne Tiefe dargestellt hatte, oder ob ich ihn umarmen sollte, um ihm für das Wunder zu danken, dass er Dinge so sagen konnte, tiefinnerliche Dinge, als könnte man sie sehen. Und ich hatte recht. Da war zwischen uns eine Intimität, eine Verbindung für immer, die mich ein wenig in die Hände dieses Mannes gegeben hatte. Als hätte er über etwas in mir die Herrschaft, über den Stolz vielleicht. Diesen paradoxen Stolz, dass er sein Auge auf mich geworfen hatte, dass er mich in einem Vers reinhaben wollte und dass er mich zugleich unglücklich gemacht hatte, weil ich von da an nicht mehr träumen konnte, ungebunden und glücklich zu sein. Das Leben war eine Liste von Gewalttaten gewesen, und als solches sollte es nachweisbar bleiben, Gewalttaten, an die wir uns in endlosen schlaflosen Nächten erinnern würden. Fernando Pessoa war tot, und das Gedicht sorgte für immer dafür, dass wir Freunde waren, mit den Abschiedsworten, wie sehr er meinen Anblick genieße. Irgend so eine Lüge, oder auch nicht, die ihn all die Tage, wenn wir uns sahen, trotzdem nicht veranlasst hat, mich zu rufen oder mir ein freundliches Wort zu sagen.
9 Die Zeit ist nicht linear
Der Friedhof ist Ort eines unbequemen Lebens. Er behauptet Leben an der Schwelle des Wahrnehmbaren, gelebt vor den Augen desjenigen, der sich gewöhnt an die geringste Bewegung. Die Abnutzung des toten Ortes jedes Menschen, das Ausbleichen der schon farblosen Fotografien in der Sonne, auf denen die Gesichter langsam im Papier versinken, als gingen sie fort. Es gibt eine minimale Offenlegung, gleichsam die mögliche Kommunikation mit dem, der nicht mehr kommuniziert und nicht mehr existiert, sondern dort eine armselige materialisierte Erinnerung hinterlässt an den, der gewesen ist. Das ist nur eine weitere närrische Seite dessen, was man dort wahrnehmen kann, weil, was im trägen Boden wirklich vor sich geht, sich nur mit der Apokalypse aller Sinne vergleichen lässt, bis hin zum Erlöschen der geringsten Gnade, gelebt zu haben. Es gibt kein versöhnliches Schweigen der Grabsteine, was für eine dumme Vorstellung. Es wäre unnütz zu hoffen, dass der Tod zum Lufthauch gehöre, der über die Gräber weht und die verwelkenden Blumen abstaubt. Die verwelkenden Blumen, abgeschnitten oder losgerissen von ihren Wurzeln, als würden sie gegen ihren Willen ebenfalls geopfert, zum Lobe von jemandem.
Welch närrische Hoffnung, das wäre der Tod. Von wegen. Der Tod ist mehr die senkrechte Stellung der Grabsteine, die wie auf dem Kopf stehende Tische sind. Tische, die nicht für Gäste gedeckt sind. Diese entwicklen, ohne Erlaubnis, eine grenzenlose Gier, die die Seele bis zum letzten Rauch befreit. Für uns ist dort nur das zum Stillstand gekommene, duftende Bild. Ich würde dort keine Entscheidung für die winzigen Dinge danach treffen. Ich würde mich nicht verführen lassen, eine Blume, eine Grabinschrift, ein Foto auszusuchen, auf dem ich heiterer aussähe und womit die Vorübergehenden aufgefordert würden, Mitleid zu haben mit meinem Ende und vielleicht zu beklagen, dass ein so sympathisches Gesicht ausgelöscht wurde. Ich würde nicht zulassen, dass das Danach diese absurde Folklore wäre, mir käme es darauf an, ein ernstes Problem mit der Zeit zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass nur die Beherrschung der Zeit uns vor dem Wahnsinn retten kann. Und die Seele war etwas, das ich sagte wie jemand, der nichts sagte. Ich würde nie im Ernst davon
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