Das Haus der glücklichen Alten
positiven Saldo. Vielleicht war es gerade darum so brutal, den Verlust von so vielem, was man erreicht hatte, ertragen zu müssen. Doch auch ohne den Zettel blieb die Figur weiter mein Mariechen, und das würde so bleiben. Américo lachte, und ich setzte noch hinzu, was mich anstinkt, Junge, ist Anísios Religiosität, hast du das schon mitgekriegt? Und ob, Senhor Silva, so viele Heilige, wie der im Zimmer stehen hat, da kommt man sich vor wie in einer Kapelle, sogar für die heilige Messe müsste es reichen. Man kriegt es richtig mit der Angst, erklärte ich weiter, bei all den Gestalten da drinnen, die wie Gespenster an den Wänden lehnen. Ich weiß genau, wie schwierig es ist, mit Mariechen klarzukommen, und sie ist allein hier, ohne ihre Täubchen, wäre sie mit ihren ganzen Heerscharen hier, das würde was geben! Jedenfalls sind Sie ein guter Mensch, oder jedenfalls, besser gesagt, ein faszinierender Mensch. Worin ich ihm gern zustimmte. Da wir in diesem Punkt einer Meinung waren, sprach ich Américo auf eine andere Angelegenheit an. Vielleicht war es anmaßend von mir, mich in solche Fragen einzumischen, weil ich auch verstand, dass er noch im Berufsleben stand und sich schützen musste, aber es stimmte auch, dass er immer mehr von all unseren Leiden und unseren wenigen Wünschen erfuhr, er wusste, was uns die Tage abverlangten, und wir, wir wussten nichts von ihm. Wir nahmen uns weitgehend aus seiner Liste von Freunden heraus, während wir ihn entschieden zu unserer Liste zählten. Er lächelte. Zuerst lächelte er nur flüchtig, ohne dass er sich mit der Angelegenheit abgeben wollte. Ich ließ nicht locker. Weißt du, Junge, wir sind hier wie die Haustiere untergebracht, eingeschränkt und pflegebedürftig, das ist wahr, und wir haben tatsächlich Ähnlichkeit mit kleinen Kindern, weil unsere Vorstellungen durcheinandergeraten. Wir sind zu erschöpft, um mit allem weiterzumachen, wir irren uns ständig, begehen Dummheiten, die man von Erwachsenen nicht erwartet, und doch sind wir erwachsen, vor allem, wenn wir uns in aller Ruhe hinsetzen, und wir haben die Erfahrung eines ganzen Lebens, in dem wir schon so viel gesehen haben, im Kopf. Manchmal, wenn die Altersschwäche, der wir allmählich erliegen, richtig zunimmt, könntest du unsere Freundschaft ein bisschen mehr nutzen, weil wir Lichtjahre von deinem Alter entfernt sind, aber wir haben eine Vergangenheit, die, allgemein gesagt, deine Gegenwart und deine Zukunft ist. Er lächelte und sagte nichts. Er war Single, ohne Liebschaften, als hätte ihn jemand verloren, der ihn nicht wiederfinden konnte.
Doktor Bernardo ließ mich rufen und beglückwünschte mich zum sympathischen Zusammenleben im ersten Jahr. Er umarmte mich – für meinen Geschmack eine allzu intime Geste – und hielt eine kurze Ansprache, ich weiß nicht, ob er das bei allen macht, doch er meinte, mein Aufenthalt im Haus der glücklichen Alten sei ein gelungenes Beispiel für Integration und Kameradschaft. Er gestand mir, Senhor Pereira und Cristiano Silva, außerdem Anísio Franco und João Esteves und auch Américo Setembro hätten ihm mitgeteilt, dass sie mich gernhätten und dass sie bei mir die Kunst des guten Gesprächs und der guten Laune lernten. Doktor Bernardo freute sich, als beruhe der Sieg über meine anfängliche Griesgrämigkeit auf seiner Wissenschaft. Recht bedacht, ging mir dann durch den Kopf, war ich ein leicht zu zähmender Gast. Das stellte viele meiner Erwartungen in Bezug auf das unwiderrufliche Verlangen nach einem unmittelbaren, unumkehrbaren Ende der Welt in Frage. Ich fand, dass ich vor allem ein wohlerzogener Mann war. Das ist meine summarische Autobiographie: ein wohlerzogener Mann. Das ließ mich ein Problem nach dem anderen überwinden, was nötig war, um niemanden zu beschuldigen und sich niemandem entgegenzustellen. Dann erhob sich Doktor Bernardo, kam wieder auf mich zu und wartete, bis auch ich aufgestanden war. Um mich zu verabschieden, damit ich ein weiteres verdienstvolles Jahr im Heim bliebe. Er umschlang mich mit einer weiteren Umarmung, und ich ging hinaus. Es kam mir wie eine etwas dick aufgetragene Geste zu einem Berufsjubiläum vor.
Nach dem Mittagessen setzte sich Anísio zu mir, um zu sehen, wie es mir geht. Ich fühle mich wohl, sagte ich zu ihm, ich fühle mich wohl. Er wollte wissen, ob wohl fühlen bedeutet, mit düsterer Miene herumzulaufen. Ich antwortete, die Zeit sei nicht linear. Richtet euch darauf ein, ihr Dulder der Welt, die Zeit
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