Das Haus der glücklichen Alten
ist nicht linear. Die Zeit verdirbt in Zyklen, die unterschiedlichen Logiken gehorchen, die aufeinanderfolgen und den Dulder wie jeden anderen Menschen wieder zurück an einen bestimmten Ausgangspunkt versetzen. Das ist leicht zu verstehen. In dem Moment, wenn wir wollen, dass die Zeit kürzer wird, vor einem Ereignis zum Beispiel, zählen wir zuerst die Tage, manchmal sogar die Stunden, dann die triumphalen Wochen, die langen Monate und danach die Lehrjahre. Um dorthin zu gelangen, müssen wir aber die Zeit auch auf andere Art fühlen. Wir verlieren jemanden, und wir müssen den ersten Winter allein hinter uns bringen, dann den ersten Frühling, den ersten Sommer und den ersten Herbst. Und in diesem ersten Jahr müssen wir unsere Geburts- und Jahrestage und alles überstehen, was uns Gelegenheit zu Glückwünschen gibt, den Hochzeitstag, Weihnachten, Neujahr, sogar die Erdbeersaison, die Zeit des Kastanienfeuers, des Nieselregens, den ersten Schritt eines Enkels, die Rückkehr eines Satelliten zur Erde, die Nachrichten aus Brasilien, kurzum, alles. Auch die erste Autofahrt allein muss man hinter sich bringen, das erste Telefongespräch, das man mit diesem Menschen nicht führen kann. Die erste Reise, die wir ohne ihn unternehmen. Die Bettwäsche, die wir zum ersten Mal wechseln. Die Fenster, die wir aufmachen. Die Suppe, die wir kochen und ohne den anderen essen. Die Fernsehnachrichten, die wir unkommentiert lassen. Ein Buch, das man in absoluter Stille liest. Die Zeit bewahrt unzerstörbare Kapseln, weil wir, so viele Tage auch aufeinanderfolgen, immer zu einem Punkt kommen, an dem wir uns zu irgendeinem Anfang zurückwenden, um zum ersten Mal etwas zu tun, was uns unbarmherzig peinigen wird, weil in diese Kapsel auch die klare Vorstellung projiziert ist, wie sehr wir den Verlorenen geliebt haben, das klare Bild seines Gesichts, das manchmal verlorengeht, aber immer wieder neu auftaucht, sogar der Klang dieser Stimme, wie sie unseren Namen ruft oder, was noch grausamer ist, wie sie ich liebe dich sagt, mit einem unglaublichen Lachen, das uns tausendmal im Leben Kraft geschenkt hat.
An diesem Nachmittag kam der Postbote und lehnte sein Fahrrad an die übliche Stelle. Er kam Américo entgegen, der hin und her lief, um die Alten spazieren zu führen. Der Postbote gab Américo ein Bündel Briefe, zu denen auch der gehörte, den ich für Dona Marta sorgfältig gefälscht hatte. Für diesen Brief hatte ich mehrere Stunden gebraucht. Nicht, weil er lang gewesen wäre, das war er nicht, er war kurz wie alles im Leben, sondern weil es darauf ankam, dass er etwas gut Überlegtes sagte, etwas, das ihr guttäte, ein zuverlässiger Brief, der der stillen Alten garantiert eine Freude bereitete. Américo sortierte rasch die Briefe, weil die meisten an das Heim als Institution und nicht an die Insassen gerichtet waren. Plötzlich stockte er. Ich sah sofort, wie er erstaunt auf den Brief des verschwundenen Ehemanns Dona Martas blickte. Des Ehemanns, der seine Frau bisher so schlecht behandelt und sie vergessen hatte. Américo blickte durch die Fensterscheiben in den Saal, wo Dona Marta an der Wand lehnte. Sie saß nicht einmal. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, um den Leuten bei dem, was sie sagten oder taten, zuzusehen. So sah Américo Dona Marta und erbebte kurz, weil er seine Unruhe nicht beherrschen konnte. Dona Marta, die jeden Tag auf die Post wartete, hatte den Briefträger kommen sehen, und nun blickte sie zu Américo hinüber, schaute, ob Américo sie stören würde, obwohl er so versteinert aussah, worauf wartete er denn? Normal war, dass der junge Mann jeden Tag die Briefe in dreißig Sekunden sortierte und den Saal betrat, um hier und da Umschläge hinzulegen. Aber an diesem Tag tat er es nicht, er tat auch nichts anderes. Er tat nichts. Inzwischen schüttelte sich Dona Marta ungeduldig. Sie schüttelte sich so ungeduldig, dass die anderen es bemerkten und Américo zuriefen, er solle ihr irgendwie helfen. Américo tat, was er für das Beste hielt. Er lief zu Doktor Bernardos Sprechzimmer und holte ihn, damit er die Verantwortung für den besonderen Brief übernahm. Das Blut erstarrte Doktor Bernardo in den Adern, und der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er trat in den Saal, ergriff die arme Dona Marta, der schon fast Schaum vorm Mund stand, beim Arm und bat sie, mit ihm zu kommen. Doktor Bernardo, mit Américo im Schlepptau, wollte, dass die alte Frau mit ihm ins Sprechzimmer ging, natürlich, um sie zu
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