Das Haus der glücklichen Alten
Kleinkram der Alltagsroutine hinauszudenken. Trotzdem lebe ich wie jeder andere Mensch unter denselben unsicheren Existenzbedingungen, immer bedroht vom existentiellen Absturz. Die drei kriegten wegen meines Wutausbruchs den Mund kaum wieder zu. Bis Anísio sagte, Sie hätten zu mir ins Museum kommen müssen. Ich hätte Sie sofort eingestellt, und Sie hätten sich für unsere Geschichte begeistern können. Eine Sekunde lang dachte ich, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn ich in Lissabon gelebt hätte. Ich wäre Hauptstädter geworden, wäre rausgekommen aus dem Alltagstrott, bis ein globalisierter, kosmopolitisch denkender Mensch aus mir geworden wäre. So blieb mein Denken auf den Stadtrand begrenzt, gestand ich mir ein, auf die Provinz, zu weit weg von den Dingen, um an Entscheidungen beteiligt zu sein. Meine Geschichte ist die fast aller Menschen. Es ist keine Geschichte, sie bietet nichts Neues. Ich habe es zu keinem Heldentum gebracht, außer dem, dass ich alt geworden bin und meine Liebe bewahrt habe, was viele nicht geschafft haben, obwohl sie es vielleicht genauso gewollt hätten wie ich. Ich sah Anísio mit dem Licht in den Augen an und sagte, entschuldigen Sie wegen der Sache gestern. Ich war unhöflich, das kommt vor bei mir. Nicht dass ich Sie nicht habe begrüßen wollen, mir war nur kalt, und ich wollte schnell eine Jacke holen. Dann bin ich aber doch nicht mehr runtergegangen. Ich war plötzlich so müde und habe mich hingelegt. Mit einem Lächeln nahm er meine Entschuldigung an. Macht nichts. Und es machte wirklich nichts. Es war ein kindisches Missverständnis gewesen und schon vorbei.
Senhor Anísio Franco war Konservator im Nationalmuseum für alte Kunst gewesen. Er wusste, dass auf einer der Tafeln des heiligen Vinzenz von Nuno Gonçalves jemand abgebildet war, der Salazar ähnelte. Er zeigte uns eine Abbildung und sagte, wie schade, dass wir nicht die Originale vor Augen haben, wenn man nämlich genau hinschaut, erkennt man, dass die anderen Tafeln alle ganz glatt sind und durch die Farben und die meisterliche Ausführung sehr ruhig wirken. Aber hier, im Gesicht von einem dieser Pappenheimer, gibt es ein gewisses Etwas, das an Salazar erinnert, wobei in der Farbgebung ein gewisser Misston liegt, es sieht ganz so aus, als ob die Stelle im Nachhinein verändert und verfälscht worden ist, damit der Mann an jemanden erinnert, der hier eigentlich gar nicht hingehört. Es gibt eine Legende in Bezug auf die Tafeln, die besagt, dass alle großen Portugiesen diesen Gesichtern allmählich ähnlich würden. Alle lusitanischen Gesichtszüge sind dort bereits wiedergegeben wie in Vorahnung der Gesichter der kommenden Staatslenker. Und nur wegen des unglücklichen Zufalls, dass Nuno Gonçalves’ Hexerei nicht auch ihn erreicht hatte, wollte Salazar natürlich nicht außen vor bleiben. Anísio lachte und fuhr fort, damals erzählte man, der Diktator habe sich die Tafeln irgendwann unter die Finger gerissen und einen Maler beauftragt, ihm mit Gewalt seinen Platz in der Geschichte zu sichern. Seht ihr, wie hier jemand wegretuschiert ist?, fragte Anísio und deutete auf die Abbildung, ehe er selbst die Antwort gab, dafür ist jemand zu sehen, der unbedingt mit aufs Bild wollte. Diese Machtmenschen trauen sich was, dass sich unsereinem die Haare sträuben. Komisch ist es aber doch, findet ihr nicht? Wir staunten, als wir das Buch mit den Farbabbildungen, das er uns mitgebracht hatte, herumreichten. Allzu groß war die Ähnlichkeit der Gestalt ganz links in der Gruppe zwar nicht, aber sie hatte etwas Unheimliches, worin eine Reminiszenz an den Diktator liegen mochte. Wir machten große Augen, und der europäische Silva freute sich am meisten. Er meinte, es sei eine phantastische Kontamination, und philosophierte über die gerade gehörte Verschwörungstheorie. Alles kontaminiert alles, alles leidet. Senhor Pereira sagte, ja, es sei altbekannt, dass sich in der Natur alles gegen alles verschwöre, und nicht nur dort, Senhor Cristiano, nicht nur dort. Ungehalten wies dieser ihn zurecht, ich heiße Silva, ist das so schwer zu merken? Nur um noch etwas Gift beizumischen, fragte ich, ob es nicht vielleicht Almada Negreiros höchstselbst gewesen sein könnte, der Salazar dort hineingemalt habe. Kann ja wohl nicht wahr sein, Almada Negreiros da mit reinzuziehen, das Genie. War nur Spaß, sagte ich. War nur Spaß. Dass dieser Mann die Anordnung der Gemälde entschlüsselt hatte, war die eine Sache, aber dass er
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