Das Haus der glücklichen Alten
hatte mich lange auch nicht daran erinnert. Ich hielt ein Buch in der Hand, und die Tür war nicht verschlossen. Aber ich wollte nichts lesen, ich war nicht dort, um zu lesen. Die Vögel hatten mich ohne Körper zurückgelassen, und die Metaphysik stellte meine Identität in Frage. Wohin sollte ich gehen, was sollte aus mir werden, nachdem mich der Körper verlassen hatte, was sollte aus mir werden nach dem Tod? Ich hatte mich schon so daran gewöhnt, mir vorzustellen, was mit mir nach dem Tod wäre. Es war eine ständige Suche nach irgendeiner Transzendenz, die mir eigentlich widersprach. Die meiner Überzeugung widersprach, dass es nichts gibt, was über das Leben hinausreicht. Die schlafende Dona Marta glich einem lächerlichen Tier, das sich ums Überleben nicht kümmert. Einem idiotischen Tier, das sich keine Sorgen machte ums Überleben und sich in seiner Schwäche den einfallsreichen Mitteln preisgab, die die Natur bereithält, um jemandem das Leben zu entreißen. Und die Natur schlug ihr ein paarmal mit dem Buch auf den Kopf. Direkt und zielsicher auf den Kopf, mehrere kräftige, wuchtige Schläge, die den Kopf der Frau ins Kissen drückten, bis er in so kurzen Sekunden zu demselben Punkt an der Wand gegenüber, genau demselben Punkt zurückkehrte. Doch das war anders, weil sie inzwischen die Augen aufgerissen hatte und nicht mehr atmete. Ihre Augen starrten reglos die Wand an, und die Lunge blieb ruhig, hatte jenen entnervenden Galopp beschwichtigt, in den die Frau verfiel, wenn sie sich aufregte oder über etwas erschrak. Ich lief in mein Zimmer zurück. Letzten Endes war es bei den glücklichen Alten irrsinnig einfach, jemanden zu ermorden. Ich würde es nicht wissen. Ich würde es nicht wissen können. Als ich am Morgen aufwachte, glaubte ich, ich hätte die ganze Nacht tief geschlafen. Das glaubte ich lange Zeit.
15 Alt im Kopf
In der Nacht zuvor hatte Senhor Pereira die Altersschwäche erreicht. Verlegen setzte er sich in den Hof und fand kein Wort der Erklärung. Anísio erbarmte sich seiner und stellte erst einmal mit der ihm eigenen Autorität Ruhe her. Wir sagten zum wiederholten Mal, wie traurig Dona Martas Tod sei, gerade jetzt, nachdem sie durch die Briefe neuen Mut gefasst habe. Das sagten wir, weil der Tod letztlich immer noch etwas weit Ernsteres ist als das Bett zu beschmutzen, die Selbständigkeit zu verlieren oder irgendeine Fähigkeit einzubüßen. Anísio sagte, dass es wirklich zu bedauern und dass Américo tief betrübt sei, weil er seine beste Briefkundin verloren habe. Senhor Pereira gab keine Antwort, er stand während unseres Gesprächs da wie jemand, der sich auf einem Platz verlaufen hat, auf dem andere Fußball spielen. Américo hatte um Dona Marta geweint. Er sah ganz zerknittert aus, und das verriet uns viel darüber, wie sehr er dieser so romantischen Frau zugetan gewesen war. Er setzte sich kurz zu uns und sagte mir, er danke mir für die Mühe, die ich mir mit den Briefen gegeben, dafür, wie ich mich dafür eingesetzt hätte, die letzten Lebensmonate dieser Frau zu verschönern. Ich konnte ihm nicht für seine Worte danken und auch keinen Stolz für mein Handeln empfinden. Ich verstand, dass ich unwürdig war, Dona Martas Tod zu betrauern, weil ich sie Monate zuvor dreimal mit der Hand geschlagen hatte, bis sie schwieg. Ich hatte kein Recht, mit den Briefen zu prahlen, wo die Briefe doch nur eine Folge der drei Schläge waren. Senhor Pereira gab sich Mühe, von seiner grenzenlos qualvollen Trauer loszukommen. Er sagte, unser Freund Silva muss sich nicht für alle Zeiten die Schuld für das Geschehene geben. Wir tun hier, was wir nie zuvor getan haben. Altwerden gehört dazu. Wir werden alt im Kopf.
Senhor Pereira war nicht alt genug, um sich im Schlaf die Beine schmutzig zu machen. Ich sage, er war es nicht, weil er noch klar im Kopf war, und nicht einmal das Alter rechtfertigte einen so weit fortgeschrittenen Verfall. Doktor Bernardo zitierte ihn zu sich und stellte ihm Fragen. Danach schickte man ihn zu einer Reihe von Untersuchungen. Es war möglich, dass Senhor Pereira diese ernsten Krankheiten, die sich überlagerten und den Körper überall angriffen, besiegen könnte. Er blickte uns nicht ins Gesicht. Er gab uns nur zu verstehen, wie froh er war, dass wir da waren, und dann sagte er, es geht nicht bloß darum, dass man schwächer wird, sondern man wird auch krank. Américo stand auf. Der europäische Silva kam herein, und dieses eine Mal hielt er den Mund. Seine
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