Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
traditionelle Art. Die Pinselhaare küßten das Reispapier und ließen Farbe darauf zurück – das Abbild dessen, was sein geistiges Auge sah. Er malte Tiger, die einem aus dem Papier entgegensprangen, und atemberaubende Landschaften zwischen Himmel und Erde. Die Menschen waren begeistert von seinem Talent, kein anderer Künstler in Chinatown malte so lebensecht. Ich glaube, das Geheimnis seiner Kunst lag darin, daß Mr. Lee jeden Morgen, wenn er seine Tuschsteine und Lammwollpinsel vorbereitete, schweigend um innere Erleuchtung betete.
An diesem drückenden Nachmittag nun, ein Jahr, nachdem Gideon wieder in mein Leben getreten war und es gleich darauf von neuem verlassen hatte, hob Mr. Lee den Blick von seiner Malerei und sah mich mit seinen seltsam hellen Augen an. Ein Chinese mit solchen Augen war ungewöhnlich, aber an Mr. Lee war alles ungewöhnlich. Er hatte mir erzählt, er sei noch nicht dreißig, aber er wirkte älter. Sein Haar wich von der Stirn zurück, und er trug eine sehr dicke Brille. Seine Schultern waren von den vielen Jahren, die er nun schon über seinen Bildern saß, und auch davon, daß er sehr hochgewachsen und deshalb verlegen war, leicht nach vorn gebeugt. Er war so schüchtern, bescheiden und zurückhaltend, daß ich oft dachte, Mr. Lee gehöre eigentlich in eine andere Zeit, in die ferne Welt klösterlicher Gelehrter, die raschelnde Seidengewänder trugen und über das Wesen der Engel nachsannen.
In den letzten beiden Jahren war er im wahrsten Sinne des Wortes heruntergekommen, denn er wohnte jetzt unter mir in dem kleinen Raum, den ich auch für kurze Zeit bezogen hatte. Obwohl er ein hervorragender Künstler war – der beste in Chinatown –, arbeitete er qualvoll langsam, zu langsam für die Touristen, die schnell hingeworfene Bilder wollten und keinen Wert auf Qualität legten. Als andere Künstler zuzogen und Erfolg hatten, verlor Mr. Lee allmählich an Boden. Er verkaufte nur noch wenige Gemälde und fürchtete schon, unter großem Gesichtsverlust zu seiner Familie zurückkehren zu müssen. Aber wenn er es in Kalifornien nicht aus eigener Kraft schaffte, mußte er eben über seinen Schatten springen und wieder nach Hawaii gehen.
»Sie brauchen einen Namen«, wiederholte er sanft und legte den Pinsel beiseite.
Und er hatte recht. Nachdem mein bescheidener Ruf sich zu verbreiten begonnen hatte, fingen die Leute an, in die Kräuterläden zu gehen und zu den Inhabern zu sagen: »Ich brauche etwas von dem rosa Balsam, den dieses Mädchen macht, das über der Glücklichen Wäscherei wohnt.« Wie umständlich und mühsam! Der Kunde konnte viel leichter sagen: »Roter-Drache-Balsam, bitte.«
Aber welchen Namen sollte ich meinen Mitteln geben, welches Symbol für sie wählen? Die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft verwendete Rot und Gold, die Farben des Glücks, und natürlich das Drachenbild, das bei allen Chinesen als mächtigstes Glückszeichen gilt. Und obwohl meine Arzneien in ihren neuen, hübschen Flaschen und Verpackungen ansprechend aussahen, fielen sie im Regal nicht so auf wie die Roter-Drache-Mittel.
Ich hatte den Mann, dem die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft gehörte, nie gesehen, aber ich kannte seinen Ruf. Ich glaube sogar, daß es Ladenbesitzer gab, die Angst hatten, seine Erzeugnisse nicht zu führen, und es nur deshalb taten, weil man sie einschüchterte. Denn wie anders ließ es sich erklären, daß Medikamente von so geringer Qualität – einige davon waren meines Erachtens geradezu gefährlich – immer wieder in den Regalen angesehener Kräuterläden standen?
»Sie brauchen ein Symbol, Harmonie«, sagte Mr. Lee, »damit Ihre Heilmittel auffallen und die Leute sich daran erinnern.«
Aber was für ein Symbol? grübelte ich. Was konnte sich mit einem Drachen messen?
Das große Haus auf dem Hügel war vollgestopft mit schweren, viktorianischen Möbeln. Ich saß inmitten der prunkvollen Einrichtung mit ihren Topfpflanzen, den sanft tickenden Uhren und dem köstlichen Duft von Zitronenöl auf Holz, und mußte immer daran denken, wie es gewesen wäre, wenn mein Vater das Schiffsunglück überlebt hätte. Würde er meine Mutter und mich hierhergeholt haben? Bestimmt wäre unser Leben in diesem Haus ganz anders verlaufen.
Ich war gekommen, um endlich mit Fiona Barclay zu reden. Ich wollte sie um den Namen meines Vaters bitten.
Als sie eintrat, erhob ich mich respektvoll. Ich hatte noch nie ein westliches Haus betreten und mit Ausnahme der Damen aus
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