Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Namen bekam.
Ich hatte den Anwälten den Brief meines Vaters nie vorgelegt, immer nur davon gesprochen, denn ich hatte meiner Mutter versprochen, ihn nur Richard zu zeigen. Aber der Brief war der einzige Beweis dafür, daß er tatsächlich mein Vater war, und nun war Richard Barclay tot. Was sollte ich tun?
Ich hatte daran gedacht, Gideon den Brief zu bringen, denn ich fühlte, daß er mich nicht betrügen würde. Aber ich konnte meinen Gefühlen für ihn nicht trauen. Es war leichter gewesen, als ich noch verwirrt war und glaubte, mich in meinen eigenen Bruder verliebt zu haben. Als ich dann erfuhr, daß wir gar nicht verwandt waren und ich mich ganz normal in einen Mann verliebt hatte, wurde die Last unerträglich, denn nun quälte mich die Frage: Konnten wir jemals zusammenkommen?
Auf den Tag genau ein Jahr, nachdem er morgens um acht Uhr abgesegelt war und mein Herz mitgenommen hatte, kehrte Gideon nach San Francisco zurück. In den zwölf Monaten seit seiner Abreise hatte ich mich ganz meinen Arzneien gewidmet. Ich machte sie überall in Chinatown bekannt, verbesserte sie und verbreitete sie, so gut ich nur konnte. Ich begann sogar Patienten zu empfangen – meist ältere Menschen, die sich keinen erfahrenen Arzt leisten, oder solche, die überhaupt nichts bezahlen konnten. Es war ein bescheidener Anfang, und man betrachtete mich mit Vorsicht, weil ich noch so jung war, aber allmählich sprach es sich herum, und mein Ansehen wuchs. Darum vermißte ich auch mein Herz nicht besonders. Ausgefüllte Tage und Nächte mit tiefem Schlaf lassen keinen Raum für Sehnsucht. Aber als ich aus der Zeitung erfuhr, daß ein riesiger Ozeandampfer angelegt hatte, die Namen der Prominenten auf der Passagierliste las und dann noch ein Foto von Gideon fand, das ihn auf einer Begrüßungsparty in der Villa Barclay zeigte, zu der selbst der Bürgermeister von San Francisco und mehrere bekannte Filmstars und Politiker geladen waren, da fühlte ich, wie sich mein Herz in meiner Brust zurückmeldete und mir von neuem süßen Kummer brachte.
Die blonde Olivia war mit Gideon auf dem Bild zu sehen. Sie hatte ihn untergehakt, und so, wie sie mit glückseligem Lächeln zu ihm aufsah, während er direkt in die Kamera strahlte – Olivia, die »Freundin der Familie«, deren Foto er in seiner Brieftasche trug –, wußte ich, daß meine heimliche Liebe sinnlos war.
Als er mir einen Boten mit einem Brief sandte und fragte, ob er mich besuchen dürfe, antwortete ich nicht. Als eine Woche später ein zweiter Brief kam, schickte ich den Boten zurück.
Den dritten Brief überbrachte Gideon selber.
Ich hatte zu der Zeit schon einen kleinen Raum im Hinterhaus von Mr. Huangs Handelsgesellschaft gemietet, so daß die Kräuter und Mineralien, die ich von ihm bezog, ohne Umwege an die Arbeitstische, Spülbecken und Herde gingen, an denen eine kleine Truppe von vier Mädchen mir dabei half, meine Heilmittel herzustellen, sie zu verpacken und sie dann auszuliefern.
Wir waren ein bescheidener Betrieb. Jedes kleine Päckchen, jedes schmale Fläschchen, jeder Tontopf wurde von Hand gefüllt, etikettiert, eingewickelt und in Kisten verpackt. Eines der Mädchen saß an einem vollgestopften Schreibtisch und beschriftete mit größter Sorgfalt die Etiketten in chinesischer und englischer Sprache, wobei sie sowohl das Herstellungsdatum als auch die enthaltenen Kräuter aufschrieb. Die meisten Naturheilmittelhersteller führten keine Inhaltsstoffe auf, weil sie fürchteten, andere könnten die Mischung nachahmen. Aber manche Menschen sind gegen bestimmte Kräuter allergisch, wie ich es gegen Jimsonkraut bin, und es kann zu ernsthaften Beschwerden kommen.
Zuerst wollten die Besitzer der Kräuterläden von Chinatown meine Mittel nicht führen. »Wir haben jede Menge Roter-Drache-Artikel. Warum sollen wir Ihre Sachen ans Lager nehmen?« Also ging ich von einem zum anderen und überreichte jedem drei Flaschen Goldlotus, drei Packungen Wonne und drei Krüge mit Mei-ling-Balsam. Ich sagte: »Behalten Sie das Geld, das Sie damit verdienen. Was Sie nachbestellen, gebe ich Ihnen in Kommission.« Soviel Vertrauen hatte ich zu meinen Produkten. Die Kräuterhändler verkauften die Artikel und bestellten neue bei mir nach. Damit begann ich zu verdienen.
Wenn ich einer Freundin oder Nachbarin etwas verkaufte, erklärte ich immer: »Wenn es nicht wirkt, gebe ich Ihnen Ihr Geld zurück.« Aber mit Ausnahme von Mrs. Po war es allen zu peinlich, mir etwas
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