Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
der Missionsschule in Singapur, bei denen ich Englisch gelernt hatte, keine westliche Frau kennengelernt.
Sie sagte: »Sie möchten mich sprechen?« Dann blieb sie plötzlich stehen und starrte mich an.
Ich weiß nicht, was bei amerikanischen Frauen als schön gilt, aber ich fand Fiona Barclay hübsch. Sie war geschickt geschminkt und trug das Haar so frisiert, wie ich es in einer Zeitschrift gesehen hatte. Ihre Kleidung war aus Seide und elegant. Sie zeigte die Haltung und Würde, die der Herrin eines so großen Hauses angemessen war. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig, aber ich bemerkte eine sonderbare Atemlosigkeit in ihrer Art zu sprechen – es klang wie bei Mrs. Pos Schwiegermutter, einer Frau fortgeschrittenen Alters, wenn sie einen Tag mit ihrer Pfeife verbracht hatte.
»Sind Sie das Mädchen, das den Ring meines Mannes hat?« fragte sie, als sie mich lang genug angestarrt hatte.
»Ich ehre Sie, Erste Gemahlin.«
»Ich bin keine Erste Gemahlin. Ich bin die Gemahlin, und der Ring gehört mir.«
»Verzeihen Sie mir, aber dieser Ring ist alles, was ich von meinem Vater besitze.«
Sie bot mir weder einen Stuhl noch Tee an. Vielleicht ehrten die Amerikaner ihre Gäste anders als wir. »Ihr Vater?« fragte sie.
In diesem Moment betrat eine andere Frau den Raum. Ich erkannte sie von dem Foto in Gideons Brieftasche – es war Olivia, die Gideon seine Freundin genannt hatte. Jetzt sah ich sie aus der Nähe, sah, wie hübsch sie war, wie ihr blondes Haar glänzte, so als sei sie ein Filmstar. Ich erinnerte mich, daß mir Gideon damals vor zwei Jahren im Drugstore erzählt hatte, Olivia sei siebzehn. Also war sie jetzt neunzehn, so alt wie ich. Sie lächelte und fragte, ob ich gerne eine Tasse Tee hätte.
Mrs. Barclay unterbrach sie. »Keinen Tee, Olivia. Diese Frau bleibt nicht lange.« Sie richtete den kalten Blick auf mich. »Sie behaupten, Richard sei Ihr Vater. Können Sie das beweisen? Haben Sie eine Heiratsurkunde?«
Die Heiratsurkunde war gefälscht. Mein Vater hieß darin Richard Smith, irgendein Nachname, damit ich in die Vereinigten Staaten einreisen konnte.
»Eine Geburtsurkunde?«
Ebenfalls gefälscht.
»Junge Dame, ich weiß nicht, was Sie für einen Plan haben, und es ist mir auch gleichgültig. Aber der Ring gehört mir, und ich will ihn wiederhaben.«
»Ich habe keinen Plan.«
»Was wollen Sie dann? Einen Teil der Erbschaft? Geld? Vielleicht in diesem Haus wohnen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts davon.«
»Aber irgend etwas müssen Sie doch wollen.«
»Ich will seinen Namen.«
Sie sah mich mit aufgerissenen Augen an. Olivia beobachtete uns mit verwirrter Miene. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mein Name. Sie sind die einzige, die ihn mir rechtmäßig zurückgeben kann.«
Richard Barclays Witwe musterte mich einen langen Augenblick. Um uns herum ertönten die Geräusche des Nachmittags, das Klingeln der Cable Cars und das ferne Dröhnen der Nebelhörner, die vor dem heranziehenden Nebel über der Bucht warnten. »Ich sollte eigentlich überhaupt keine weitere Minute an Sie verschwenden«, sagte sie endlich, »aber ich gestehe, daß ich neugierig auf die unverschämte Geschichte bin, die Sie mir offenbar auftischen wollen. Wie soll denn mein Mann Ihre Mutter kennengelernt haben?«
Ich erzählte ihr, wie man Richard zusammengeschlagen und meine Mutter ihn gepflegt hatte. Ich berichtete von seinem Gedächtnisverlust und den tiefen Wunden. Ich sagte ihr nicht, daß sich alles im geheimen über Madame Wahs Seidengeschäft abgespielt hatte, und auch nicht, daß meine Mutter und Richard nicht verheiratet gewesen waren, als sie zueinanderfanden.
»Gedächtnisverlust? Woher wissen Sie dann, wer er war?«
Ich erklärte ihr, was ich mit dem Ring im Juwelierladen erlebt und wie der Juwelier den jungen Mann mit »Mr. Barclay« angeredet hatte. Was ich verschwieg, war, daß Gideon mich in einen Drugstore geführt und versucht hatte, mich zu einem heißen Karamelsundae einzuladen. Ich glaubte ihm, daß er sein Wort gehalten und seiner Mutter erzählt hatte, er habe mich nicht finden können.
»Aber das ist nicht alles«, fuhr ich hoffnungsvoll fort. »Mein Vater konnte sich zwar an nichts erinnern, was ihn selbst betraf. Aber er erinnerte sich an San Francisco und erzählte meiner Mutter Geschichten …«
Fiona hob die Hand. »Genug. Nichts von dem, was Sie mir da erzählen, ist ein Beweis.«
Aber ich hatte einen Beweis: den Brief, den Richard Barclay meiner Mutter
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