Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
hatten ihr gesamtes Bankguthaben verloren. Selbst die Barclays hatten Verluste hinnehmen müssen und fast die Hälfte ihres Anlagevermögens eingebüßt. Aber mein Unternehmen gedieh, denn wenn die Menschen sich keinen Arzt mehr leisten können, behandeln sie sich selbst. »Dieser Mann hat es auf jeden Cent abgesehen, den Sie besitzen. Er kann Ihnen Ihre Firma wegnehmen, Ihr Haus, Ihr Auto, sogar Ihre Teekanne.«
»Was ist mit uns?« warf Olivia ein, steckte eine Zigarette in eine lange Spitze und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. »Können sie uns auch belangen?«
Als ich Gideon angerufen und »ich brauche dich« gesagt hatte, war seine Antwort gewesen: »Komm sofort her.« Dabei war ich mitten in ein Tennisspiel geplatzt. Olivia trug noch ihren weißen Rock und die weiße Bluse, als handele es sich nur um eine kurze Unterbrechung, nach der sie ihr Spiel fortsetzen würde.
»Sie und Ihr Gatte, Mrs. Barclay, werden in der Anklageschrift nicht genannt und werden es höchstwahrscheinlich auch nicht werden«, erläuterte Mr. Winterborn. »Da sich Ihre Beteiligung an der ›Vollkommene Harmonie‹-Gesellschaft für chinesische Naturheilmittel auf den Exportbereich beschränkt, der seinen Sitz in Hongkong hat, besteht keine Verbindung zwischen Ihnen und dem Kapitalbesitz in San Francisco.«
Unser erster Vertrag mit der Titan Minengesellschaft hatte zu Folgeverträgen geführt, so daß wir schon bald meine Heilmittel nach ganz Ostasien lieferten. Da wir zunächst die Kräuter aus Hongkong importierten, die Mischungen aber in San Francisco herstellten und die fertigen Produkte dann wieder zurückschickten, war es nur vernünftig gewesen, eine Fabrik in Hongkong einzurichten. Gideon war Direktor von Harmony-Barclay Ltd., was dazu beigetragen hatte, ihn mit vierunddreißig Jahren wohlhabend und erfolgreich zu machen.
»Vorläufig, Mrs. Barclay«, sagte Mr. Winterborn zu Olivia, »sieht es nicht so aus, als könnten Sie und Ihr Gatte in die Sache hineingezogen werden.«
Sie lehnte sich zurück und blies einen langen, dünnen Rauchfaden in die Luft. Ich sah, wie sich ihre Augen hinter dem Rauch auf mich hefteten. Sie saß in dem hochlehnigen Sessel, ein gebräuntes Bein nachlässig über das andere geschlagen, und ich erinnerte mich, daß Olivia einmal freundlich zu mir gewesen war. Aber damals hatte mich Gideon noch nicht gebeten, seine Frau zu werden, und auch sie noch nicht gefragt, nachdem er erfahren hatte, daß ich Mr. Lee geheiratet hatte.
Ich wandte den Blick von Olivia ab und schaute durch die offene Tür in das große Wohnzimmer. Auf der anderen Seite gingen hohe Fenster auf den nördlichen Bogen der Stadt und die dahinterliegende Bucht hinaus. Man konnte gerade eben die neue Brücke erkennen, an der noch gebaut wurde, zwei Türme, an deren Befestigungskabeln halbfertige Streben hingen, die einander entgegenzuwachsen schienen. Ich erinnerte mich an die Nacht, als ich mit Gideon auf der Landspitze gestanden und er mir seinen Traum geschildert hatte – eine Brücke zu bauen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte.
Die Golden Gate-Brücke würde tatsächlich ein monumentales Bauwerk werden, aber nicht Gideons Werk.
»Mrs. Lee«, unterbrach der Anwalt meine Gedanken. »Wie viele Rezepturen, meinen Sie, hat der Rote Drache Ihnen gestohlen?«
Ich zwang mich, aufmerksam zu sein. »Vier, bei denen ich ganz sicher bin. Insgesamt vielleicht fünf oder sechs.«
Warum, Gideon? wollte ich fragen. Warum ist es nicht deine Brücke? Hat der Staat deinen Vorschlag abgelehnt? Hat jemand, der den Ausschuß bestochen oder dort einen Verwandten sitzen hat, den Auftrag bekommen? Nach unserer Nacht unter den Sternen hatte Gideon die Golden-Gate-Brücke nie wieder erwähnt, und ich wußte nicht, weshalb sein Traum gestorben war.
»Was wir brauchen, Mrs. Lee, sind solide, greifbare Beweise.«
Ich lauschte dem Ticken der prunkvollen Standuhr, die die Minuten zerteilte, und dachte an die beiden Seiten der Brücke, die aufeinander zustrebten, wie Gideon und ich es manchmal taten, in den gestohlenen Momenten, in denen wir über Transporte, Kosten und Gewinne unserer asiatischen Filialen diskutierten und ich plötzlich spürte, wie er mich ansah. Dann begegneten sich sekundenlang unsere Blicke und beide fühlten wir die Sehnsucht des anderen. Ich vermutete, daß er in seiner Ehe nicht glücklich war.
»Olivia.« Er stand abrupt auf und kämmte sich mit den Fingern das Haar zurück. Auch er war ganz in Weiß
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