Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
ich über schriftliche Beweise verfügte. Aber wie konnte ich hier darüber sprechen, mit diesem Mann, den ich gerade erst kennengelernt hatte, und vor Gideon und Olivia?
»Ich werde Ihnen das Rezeptbuch meiner Mutter geben. Bei einigen der Rezepte stehen Daten.«
Er rieb sich das Kinn. »Das wird vor Gericht vielleicht nicht standhalten. Aufzeichnungen lassen sich fälschen. Haben Sie denn keine Briefe, in denen Sie die Rezepturen beschreiben?«
»Doch, einen«, gab ich widerwillig zu. »Es handelte sich um eine Geheimformel, die ich ausgehend von einem uralten Rezept auf einem Papyrus entwickelt hatte. Niemand wußte, daß ich daran arbeitete, und der Rote Drache hatte keinen Zugang zu dem Papyrus.«
»Und weiter?«
Ich sah auf Olivia und wich Gideons Blick aus. »Es gab ein Problem bei der Zusammensetzung, darum schickte ich das Rezept an einen Chemiker, der eine Analyse durchführte. Er antwortete mir, ich solle einen der Inhaltsstoffe herausnehmen, was ich auch tat. Eine Woche später führte der Rote Drache ein neues Produkt ein. Es war dieselbe Rezeptur, die ich in dem Papyrus gefunden hatte. Sie enthielt den Stoff, den ich bei meinem Mittel später weggelassen hatte.«
»Was bedeutet«, sagte Mr. Winterborn mit erfreutem Lächeln, »daß das Rezept gestohlen wurde, bevor Sie die Antwort des Chemikers erhielten. Haben Sie die Briefe noch?«
»Ja.«
»Schön, das ist immerhin ein Anfang.« Er rieb sich die Hände.
»Ach übrigens – was ist das für ein Medikament?«
»Es heißt Zehntausend Yang. «
»Ein ungewöhnlicher Name.«
»Auf chinesisch hat er einen sehr guten Klang. Die Zehntausend ist nach chinesischer Rechenart eine magische, äußerst mächtige Zahl. Und Yang ist das männliche Prinzip. Zehntausend Yang ist ein Stärkungstrank.«
»Ein Stärkungstrank?« Seine silbernen Augenbrauen hoben sich.
»Guter Gott, wollen Sie damit sagen …?«
»Es ist ein Potenzmittel.«
Am Tag, als der Prozeß begann, hatte ich zwar Angst, war aber nicht ohne Hoffnung. Mr. Winterborn und seine Mitarbeiter hatten sich unermüdlich angestrengt, eine starke Verteidigung für mich aufzubauen, eine Verteidigung, die im Grunde ein Angriff war – gegen die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft. Mr. Winterborns Leute hatten Mädchen aufgespürt, die vor Jahren für mich gearbeitet hatten, und ihre Zeugenaussagen aufgenommen. Sie hatten das Rezeptbuch meiner Mutter durchforstet und Rezepturen und Daten mit denen der Roter-Drache-Produkte verglichen. Dabei waren sie auf acht Fälle gestoßen, in denen ich ein Heilmittel neu entwickelt und der Rote Drache es eine Woche später auf den Markt geworfen hatte. Wir hatten außerdem eine Aussage von Mr. Huang, daß er nach seinem mündlichen Mietvertrag mit mir von einem Vertreter des Roten Drachen angesprochen worden war, der dieselben Räume von ihm mieten wollte.
Wenn wir Glück hatten, versicherte mir Mr. Winterborn, würde die Roter-Drache-Gesellschaft auf die Fortführung des Prozesses verzichten und die ganze Angelegenheit sich in ein paar Tagen in aller Stille außergerichtlich erledigen lassen.
Ich betete um dieses Glück, als ich Iris in der Obhut von Mr. Lees Cousine zurückließ, der ich geholfen hatte, aus Hawaii überzusiedeln. Wir taten beide so, als winke Iris mir zum Abschied, obwohl ihre Hand in Wirklichkeit hinter etwas herjagte, das nur ihre eigenen rastlosen Augen sahen.
Am ersten Prozeßtag schien die Sonne. Als ich auf den Stufen des Gerichtsgebäudes innehielt, um aufzuschauen, und ein Vogel mit langem Hals vom Dach aufflog, wertete ich es als gutes Omen.
Der Mann, der für mich den Drachen verkörperte, erschien vor Gericht zurückhaltend gekleidet und wirkte seriös. Er war in den Sechzigern, mit schwarzgefärbtem Haar und faltenlosem Gesicht, ein gutaussehender Chinese, ebenso bekannt für sein Charisma und seine Großzügigkeit wie für seine Vorliebe für Nachtclubs und weiße Frauen. Als ob er seinem Ruf als Playboy etwas entgegensetzen wollte, hatte er seinen achtzehnjährigen Sohn mitgebracht, der hinter ihm auf der anderen Seite der Absperrung saß, ein ruhiger Junge mit schmalem Gesicht, der einen dunklen Anzug und einen steifen Kragen trug.
Zu meiner Freude bemerkte ich unter den Geschworenen vier Frauen. Mr. Winterborn erklärte mir, das sei höchst ungewöhnlich und sicher in meinem Fall nützlich. Ich betrachtete es als weiteres glückliches Omen. Zu meiner Erleichterung war der Gerichtssaal fast leer. Nur Gideon und
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