Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
einen durch das niemals ausgesprochene Wissen, daß Iris unser Kind war, zum anderen durch den Vertrag, den Gideon für mich bei der Titan Minengesellschaft durchgesetzt hatte. Wir waren Geschäftspartner und beließen es dabei.
Mr. Lee war Iris ein guter Vater und mir ein respektvoller Gatte. Weil die »Vollkommene Harmonie«-Gesellschaft für chinesische Heilmittel florierte und unsere Gewinne stetig stiegen, konnte mein gelehrter Ehemann sich in Muße seiner Kunst widmen, und er begann so inspirierte und großartige Gemälde zu schaffen, daß die Nachfrage immer größer wurde. Ich wußte es damals nicht, aber an dem Tag, als der Drache von neuem in mein Leben trat, hatte Mr. Lee gerade mit dem Bild begonnen, das das Meisterwerk seines Lebens werden sollte.
Als wir in Daly City ankamen, bog Mr. Lee von der großen Landstraße ab und fuhr durch Obstgärten und Gehölze, voll von lebendigem Grün und Glück. Schließlich erreichten wir einen hohen Zaun mit einem Schild, auf dem »Taft & Söhne, Apfelwein« stand. Ich sagte zu Iris: »Schau nur, die vielen Häuser!« Aber natürlich sah sie sie nicht. Iris verstand nicht, was ich sagte. Sie schaute nicht hin, wenn ich auf etwas zeigte. Sie blickte mich nicht an, wenn ich mit ihr sprach. Ihre Augen waren überall, oben im Himmel, unten im Gras, hier und dort, unablässig umherflatternd wie ein Paar gefangener Schmetterlinge in einem unsichtbaren Käfig.
»Sie ist schwachsinnig«, hatten die Fachärzte gesagt. »Ihr Gehör und ihr Sehvermögen sind vollkommen in Ordnung, Mrs. Lee. Das Problem Ihrer Tochter liegt im Gehirn. Sie wird nie ein Wort sprechen und nie verstehen, was man ihr sagt.«
Trotzdem nahm ich Iris bei der Hand und führte sie zu dem großen Fabrikgebäude, um ihr die Maschinen und Fließbänder, die Lagerschuppen und Büros zu zeigen. Ich würde ihr auch die vielen Arbeiterinnen und Arbeiter beschreiben, die hier damit beschäftigt sein würden, alle die wunderbaren Arzneien herzustellen, zu etikettieren und zu verpacken, die die »Vollkommene Harmonie«-Gesellschaft für chinesische Naturheilmittel produzierte. Ich wollte meine Tochter immer wie ein normales Kind behandeln, denn wer konnte mit Sicherheit wissen, ob ihr Gehirn meine Worte nicht doch aufnahm? Vielleicht würde sie ja eines Tages plötzlich zu mir aufsehen und sagen: »Ja, ich verstehe.«
Der Hausmeister der Fabrik, ein freundlicher alter Mann im blauen Overall, winkte uns zu und kam mit seinem Besen in der Hand näher. Er begrüßte Iris, aber sie reagierte nicht darauf, obwohl sie ihn schon öfter gesehen hatte. Dann griff er in die Tasche und holte ein Bonbon heraus, aber als er es ihr hinhielt, nahm sie es nicht. Ihr Blick wanderte hinauf in die Sonne und dann hinunter auf ihre Schuhe, über die Schulter nach hinten und schließlich wieder in den Himmel.
Ich dankte dem Hausmeister und nahm das Bonbon, reichte es aber Iris nicht weiter, denn sie hatte keine Vorstellung von Geben und Nehmen. Statt dessen hielt ich es an ihre Lippen, und sofort lutschte sie daran und begann es zu zerbeißen. Dabei bewegten sich ihre Augen unaufhörlich, spähten, suchten einen Ort, an dem sie sich ausruhen konnten.
»So ein wunderschönes kleines Mädchen«, murmelte der Hausmeister.
Und das war sie. Obwohl Iris’ Vater wie auch schon meiner Amerikaner war, besaß meine Tochter die Mandelaugen und hohen Wangenknochen ihrer chinesischen Vorfahren. Ich erinnerte mich an ein Foto meiner Mutter Mei-ling als Kind, das ich einmal gesehen hatte. Iris hatte große Ähnlichkeit mit ihr.
Endlich erschien der Makler. Aber als er aus seinem Auto stieg, sah ich an seinem Gesicht sofort, daß etwas nicht in Ordnung war.
Der Wind wehte schärfer, und eine Wolke verdeckte die Sonne. »Es tut mir leid, Mrs. Lee«, sagte er. »Der Eigentümer möchte das Geschäft doch nicht mit Ihnen machen.«
»Aber das ist unmöglich«, wandte ich ein und wußte schon, was er erwidern würde. Ich wunderte mich eigentlich nur darüber, daß ich nicht damit gerechnet hatte.
Mr. Osgood schnaubte, warf einen Blick auf den alten Hausmeister, der auf seinen Besen gelehnt danebenstand, und meinte: »Tja … tut mir leid, aber jemand hat ihm ein höheres Angebot gemacht, und er hat es angenommen.«
»Aber das ist rechtswidrig. Ich habe Ihnen eine Anzahlung gemacht. Der Scheck ist bindend, Mr. Osgood.«
»Tja …«, wiederholte er, griff in die Jacke und holte den uneingelösten Scheck heraus. »Hier haben Sie ihn
Weitere Kostenlose Bücher