Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Olivia saßen vorne in der ersten Reihe, Mr. Lee einige Stühle von ihnen entfernt. Es würde also kein Publikum bei diesem Ehrverlust geben. Als der Anwalt des Roten Drachen sich erhob, um seine einleitenden Worte zu sprechen, hallte seine Stimme hohl durch den großen Raum.
Als erster Zeuge sagte der Makler Mr. Osgood aus, danach der alte Hausmeister, der mich mit einem Blick um Entschuldigung bat, als er Mr. Osgoods Aussage bestätigte. Aber damit war der Rote Drache noch nicht fertig. Er ließ einen Zeugen nach dem anderen aufmarschieren, und alle bestätigten, daß ich mich abfällig über den Roten Drachen geäußert hatte. Manche dieser Angaben stimmten, die meisten aber waren erlogen.
Im Lauf der nächsten Tage machten sie sich dann daran, meine Behauptungen eine nach der anderen zu entkräften. Sie legten Berichte und Protokolle aus den letzten zehn Jahren vor, in denen sämtliche Rezepturen und Herstellungsdaten aufgezeichnet waren. Es handelte sich natürlich um die Rezepte, die der Rote Drache mir gestohlen hatte, aber alle Aufzeichnungen waren früher datiert. Ich wußte, daß die Unterlagen gefälscht waren, aber ich konnte es nicht beweisen. Sie ließen Frauen auftreten, die für mich gearbeitet hatten und nun bezeugten, daß es niemals einen Spitzel des Roten Drachen unter ihnen gegeben hätte. Schließlich wurden Beweise beigebracht, daß der Rote Drache sich damals, als das Feuer in Mr. Huangs Lagerhaus ausbrach, außer Landes befunden hatte.
Meine eigenen Zeugen wurden aufs geschickteste unglaubwürdig gemacht. Mr. Winterborn rief Mrs. Po in den Zeugenstand. Auf seine Frage hin erzählte sie dem Gericht begeistert von der neuen Salbe in dem hübschen Krug, die ich ihr gegeben und die ihre aufgesprungene Haut, ihre Schlaflosigkeit und die Kopfschmerzen ihres Mannes geheilt hatte. Und ja, sie erinnerte sich noch ganz genau daran, wann sie sie bekommen hatte, gerade zwei Wochen nach dem chinesischen Neujahr, weil sie zur selben Zeit eine neue Dampfpresse in ihrer Wäscherei aufgestellt hatte. Es waren also Wochen, bevor der Rote Drache seine eigene neue Salbe herausgebracht hatte, genauso zusammengesetzt wie meine und ebenfalls in einem hübschen Krug.
Mich durchzuckte ein winziger Triumph. Aber dann stand der Anwalt des Drachen auf und fragte: »Mrs. Po, können Sie uns sagen, wer zu dieser Zeit Präsident war?«
»Was? Präsident?«
»Präsident der Vereinigten Staaten.«
Ich wußte, daß Mrs. Po sich nicht für Dinge außerhalb Chinatowns interessierte, und weshalb der Anwalt diese Frage gestellt hatte. Als sie »George Washington?« antwortete, brach der Saal in schallendes Gelächter aus.
Denn inzwischen gab es auch ein Publikum. Vermutlich handelte es sich um Leute aus der Fabrik des Roten Drachen, denn sie bejubelten jeden kleinen Sieg seiner Partei und buhten mich aus, wenn ich einen Punkt sammelte.
Das Arzneimittelbuch meiner Mutter wurde angefaßt, gelesen, kopiert, fotografiert, herumgereicht und untersucht, bis es auseinanderzufallen drohte. Mr. Winterborn brachte Zeugen bei, die die Zeiträume bestätigten, zu denen ich bestimmte Rezepturen entwickelt hatte. Der Rote Drache ließ Sachverständige auftreten, die bewiesen, daß die Rezepturen mehr als tausend Jahre alt waren. Die Tatsache, daß der Rote Drache die Mischungen jedesmal erst herstellte, nachdem ich sie ausprobiert hatte, war kein Nachweis für den Diebstahl.
Allmählich wurde offensichtlich, daß der Prozeß für mich und die »Vollkommene Harmonie«-Gesellschaft für chinesische Naturheilmittel nicht gut lief.
Mr. Winterborn hatte mir erklärt, er hoffe Zehntausend Yang nicht ins Spiel bringen zu müssen, weil es sich dabei um ein so delikates Produkt handele. Als sich allerdings andeutete, daß ich die Schlacht verlieren würde, hatte ich, obwohl er mich vor Unannehmlichkeiten warnte, keine andere Wahl.
Ich fand keine Zeugen mehr, die mein Anliegen unterstützten. Viele, die im Lauf der Jahre für mich gearbeitet hatten, fürchteten sich auszusagen oder waren bestochen. Es war kein Geheimnis, daß der Eigentümer der Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft im Verdacht stand, Verbindungen zur chinesischen Unterwelt zu besitzen.
»Was ihm am meisten Schaden zufügen kann«, erklärte Mr. Winterborn eines Abends nach einem weiteren vernichtenden Tag im Gericht, »ist nicht, daß der Rote Drache Rezepturen gestohlen und eine Spionin in Ihre Fabrik eingeschmuggelt hat, sondern die Sache, daß er wissentlich
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