Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Namensbestandteil somniferum »schlafbringend«.
Als der Agent auf seinem Stuhl zusammengesackt und mit dem Kinn auf der Brust eingeschlafen war, erschien Jonathan. Sie verabredeten sich für zehn Minuten später im Museum. Dann schlüpfte er leise in den Raum mit dem Netzwerkverteiler und machte sich an die Arbeit.
40
Charlotte sah zu, wie er in dem kleinen Raum verschwand, überzeugte sich noch einmal davon, daß der Agent tief und fest schlief, und eilte dann zu der Treppe auf der Südseite.
Als sie auf dem obersten Absatz stand und die schwere Metalltür hinter ihr sacht ins Schloß fiel, hätte sie fast laut aufgeschrien, weil plötzlich ein Mann aus dem Schatten trat und ihr den Weg versperrte.
»Desmond!« Ihre Stimme hallte in dem leeren Treppenhaus wider. »Du sollst dich nicht so anschleichen! Ich hätte fast einen Herzschlag bekommen.«
»Was zu trinken?« Er streckte ihr eine flache Silberflasche hin.
Sie roch den Alkohol in seinem Atem und merkte, wie unordentlich er aussah. Anscheinend hatte er sich seit vierundzwanzig Stunden nicht rasiert und seine Haare nicht gekämmt. Vorn auf seinem schwarzen V-Ausschnitt-Pullover klebte ein angetrockneter Klumpen, offenbar Senf. Ganz untypisch für Desmond, der fast ebenso von seiner äußeren Erscheinung besessen war wie seine Mutter. Noch erstaunlicher war der Alkohol.
»Na, Cousine?« fragte er. »Was streunst du zu dieser unchristlichen Zeit hier herum? Ich glaubte, du wärst nach Hause gefahren.«
»Ich brauchte noch einige Informationen.«
Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Und hast du sie gefunden?«
»Desmond«, sagte sie und beobachtete ihn scharf. »Weißt du, woher meine Großmutter von diesem seltenen Kraut in der Karibik wußte? Weißt du, von wem?«
Er zuckte die Achseln und lehnte sich an die Wand. »Die alte Dame und ich sprachen nicht oft miteinander.«
»Weißt du, wie Rusty Brown es geschafft hat, sich bei uns einstellen zu lassen?«
Ein verschwommener Blick. »Wer?«
»Einer unserer Produktionstechniker. Die Polizei hat ihn vor drei Stunden verhaftet.«
»Ach der. Ich weiß gar nichts – hick! – über ihn.«
»Du bist betrunken.« Sie wollte die Treppe hinuntergehen, aber er packte sie am Arm.
»Nicht betrunken genug«, erklärte er mit schiefem Lächeln. »Weißt du, was hier vorgeht, Charlotte? Mein Vater ist im Begriff, Millionen von Dollar zu verlieren. Tatsächlich würde ich mich auch nicht wundern, wenn er ins Gefängnis käme, weil er mit Investorengeldern herumgespielt hat. Sie haben gedacht, sie würden mit GB4204 reich werden. Statt dessen hat die FDA ihre Genehmigung zurückgestellt, so daß das Mittel nie zugelassen werden wird und wir es nicht auf den Markt bringen können. Und schon ist mein Vater ein verurteilter Mann.« Er lachte. »Irgendwie gefällt mir die Idee.«
Charlotte musterte ihn. Das hübsche Gesicht sah aus, als wäre es zusammengesackt, die attraktiven Züge hatten ihre Vollkommenheit verloren. Es war, als sei er der Anstrengung müde geworden, die Fassade aufrechtzuerhalten. »Desmond«, begann sie langsam und beobachtete, wie er reagierte, »du hast dich verändert. Was ist letztes Jahr, als ich verreist war, passiert?«
»Letztes Jahr?«
»Als ich für einen Monat in Europa war. Ist in meiner Abwesenheit etwas vorgefallen?«
»Etwas vorgefallen. Hm … laß mich überlegen … etwas vorgefallen …« Er hob ruckartig die Schultern. »Nicht, daß ich wüßte. Wieso?«
»Schickst du mir E-Mails?«
»Was?«
»Ob du mir E-Mails schickst.«
Er blinzelte. »Warum sollte ich das tun?« Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Ich finde, mein Vater müßte in Streifen gut aussehen, nicht wahr?«
»Ich habe dich noch nie so reden hören.«
Er beugte sich dicht über sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Weil du mir nie zugehört hast.« Dann ließ er ihren Arm los, ging um sie herum und stützte die Hand so gegen die Wand, daß der Weg blockiert war. »Ich verrate dir ein Geheimnis.«
Seine Fahne war so stark, daß Charlotte den Kopf zur Seite drehte.
»Als ich ein Junge von vierzehn war, habe ich leidenschaftlich gerne herumgeschnüffelt. Eines Tages durchstöberte ich Mammas Schreibtisch und fand einen Brief, den Daddy ihr geschrieben hatte. Findest du das nicht abartig? Ein Mann, der an seine Frau schreibt, die im selben Haus wohnt? Jedenfalls war der Brief voll mit dem üblichen Scheiß wie ›Ich liebe Dich‹ und ›Ich werde immer für Dich dasein‹ und ›Du gibst mir
Weitere Kostenlose Bücher