Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
gestürzt. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich gefunden habe!«
Jonathan lag auf dem Rücken unter dem Schreibtisch. »Moment noch!« Sie hörte, wie er etwas durchschnitt. »So.« Er zog sich unter dem Tisch hervor, richtete sich auf, legte Seitenschneider und Schraubenzieher beiseite und wischte sich den Staub von der Stirn.
Charlotte hielt ihm eine Zeitung entgegen. »Das habe ich in einem der Schaukästen gefunden. Jonathan, Mr. Sung ist der Sohn des größten Konkurrenten meiner Großmutter, des Mannes, der sie damals zugrunde richten wollte!«
Er sah, daß es eine Titelseite des San Francisco Chronicle aus dem Jahr 1936 war. Die Überschrift lautete »WEIDE SCHLÄGT DRACHEN«.
Charlotte faßte in ein paar Worten die Ereignisse des Prozesses zusammen und endete mit dem Satz: »Mr. Sungs Vater hatte seine Produkte sehr stark mit Ephedrin versetzt.«
Jonathan stand auf und klopfte sich den Staub aus der Hose. »Du willst also sagen, Mr. Sung benutzt jetzt Ephedrin, um eine Art ironische Gerechtigkeit herzustellen?« Er betrachtete sie zweifelnd. »Genausogut könnte das jemand tun, der den Verdacht auf ihn lenken will.«
»Vielleicht.« Charlotte faltete die Zeitung zusammen und legte sie vorsichtig in ihre große lederne Umhängetasche, in die sie alles gepackt hatte, was nur hineinging, darunter eine neue Schachtel mit Tee aus ihrem Büro und – ein Einfall in letzter Minute – das Buch mit den preisgekrönten Gedichten aus dem Jahre 1981. »Eines weiß ich jedenfalls: Rusty Brown kann unmöglich auf dem üblichen Weg bei uns eingestellt worden sein. Unsere Personalabteilung überprüft die Vergangenheit der Bewerber sehr gründlich. Dieser Mann wurde verhaftet, weil er in einer Pharmaziefirma Rezepturen manipuliert hat. Er wurde nicht nur festgenommen, sondern sogar vor Gericht gestellt. Es ist völlig unmöglich, daß Mrs. Ferguson so etwas übersehen konnte. Also muß sie ihn entweder selbst angeheuert haben, oder es war einer ihrer Vorgesetzten. Mr. Sung verfügt über die nötigen Vollmachten.«
Jonathan streifte enge, schwarze Handschuhe über. »Wenn Mr. Sung unser Mann ist – warum hat er dir dann das Rätselkästchen gegeben, durch das du überhaupt auf die Idee gekommen bist, im Museum zu suchen? Warum sollte er das tun, wenn er selbst der Schuldige wäre?«
»Das weiß ich nicht. In meinem Kopf schwimmt alles.« Charlotte massierte ihren Nacken und blickte sich in dem kleinen Büro um, das sie vor sechs Monaten hinter sich abgeschlossen hatte, um nie wieder einen Fuß hineinzusetzen. Jetzt sah sie das Geschirr aus der Kantine, die Teeschachteln, Jonathans Regenmantel an einem Haken, die Kaffeebecher, das elektronische Gerät, die Disketten und die Computerausdrucke. Das kleine Büro ihrer Großmutter, als bescheidener Aufenthaltsort für eine alte chinesische Dame und ihre Erinnerungen gedacht, war zu einer Kommandozentrale geworden.
Nun würde das Büro wieder ein Ort der Ruhe werden. Jeden Augenblick drohte Valerius Knight einzutreffen, womöglich mit einem Haftbefehl für Charlotte, und es gab keine Möglichkeit, ihn davon zu überzeugen, daß ihre Bekanntschaft mit allen drei Opfern wirklich nur ein Zufall war. Darum bereiteten sie und Jonathan sich auf einen hastigen Aufbruch vor, um sich dann ein Versteck zu suchen und den Killer von dort aus aufzuspüren.
Sie dachte an den Zeitungsartikel, den sie gerade gelesen hatte, den erschreckenden Bericht über einen Prozeß, der vor über sechzig Jahren stattgefunden hatte. Sie mußte zugeben, daß es vielleicht zu einfach war, Mr. Sung für den Killer zu halten, nur weil sein Vater mit Ephedrin gearbeitet hatte. In einem Punkt war sie sich allerdings ganz sicher: auch wenn Jonathan sie verdächtigte, war Naomi ganz bestimmt nicht die Täterin.
Was bedeutete es schon, wenn sie Anteile an einem Konkurrenzunternehmen besaß? Mondstein war eine solide Firma mit guten Zukunftsaussichten, und Naomis Verlobter schließlich Anlageberater. Falls Harmony je an die Börse ging, würde Naomi zweifellos auch Aktien erwerben. Die Tatsache, daß Naomi den Ankauf nicht erwähnt hatte, immerhin eine Investition von über dreißigtausend Dollar, obwohl sie erst vor ein paar Wochen erzählt hatte, sie sei knapp bei Kasse – nun ja, Naomi war manchmal zerstreut. Außerdem erzählten sich auch die besten Freundinnen nicht immer alles. Jedenfalls war es ein ungeheuerlicher Gedanke, daß Naomi ihr eigenes Haus wegen der Versicherungssumme
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