Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
adoptiert. Ich war ein Außenseiter. Olivia hatte sich mit Fiona angefreundet, und Margo wurde Olivias Schützling. Eine nette kleine, in sich geschlossene Gruppe, sollte man meinen. Und dann, auf der anderen Straßenseite, du und deine Großmutter. Die echten Barclays!« Er warf den Kopf zurück und lachte.
Das Lachen erstarb gleich wieder, und seine Augen verdüsterten sich. Er starrte auf einen Fleck über Charlottes Kopf und sagte ruhig: »Weißt du, wie es ist, wenn dein Vater dich ansieht, als ob du etwas wärst, was an seiner Schuhsohle klebt?«
Er senkte den Blick und richtete die trüben Augen auf Charlotte. »Ach so, das hatte ich vergessen. Du weißt ja überhaupt nichts von solchen Dingen. Du hattest nie einen Vater, nicht wahr?«
»Desmond, ruf ein Taxi und fahr heim.« Sie wollte an ihm vorbei, aber seine Hand schoß nach vorn, und seine Finger umklammerten ihren Arm mit festem Griff.
»Laß mich nachdenken … war er nicht irgendein Taucher? Merkwürdig, daß deine Großmutter kein einziges Bild von ihm herumstehen hatte. Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Des, laß mich los.«
Er kam näher. Seine Whiskyfahne hüllte sie ein. »Hast du dir nie Fragen gestellt? Über deine Mutter? Sie war immer in Geheimnisse eingepackt wie in Watte. Weißt du, was ich glaube? Daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte.«
Sie wehrte sich gegen den schmerzhaften Druck seiner Hand. »Ich brauche mir das nicht anzuhören.«
»Kein Mensch hat je geglaubt, daß Mr. Lee der leibliche Vater deiner Mutter war. Wußtest du das? Da war ein Prozeß, irgendwann in den Dreißigern, bei dem herauskam, daß Lee impotent war. Und nun rate mal, wer der Daddy von deiner Mammi war. Weißt du, was ich gehört habe?«
»Desmond …«
»Als du fünfzehn warst, sollst du ausgesehen haben wie deine Großmutter in diesem Alter – damals, als Gideon zum ersten Mal der Vollkommenen Harmonie begegnete.«
»Was soll das heißen?«
»Damals bist du im Sommer drei Wochen lang verschwunden. Mein Großvater verschwand ebenfalls. Er wollte keinem verraten, wo er gewesen war, nicht einmal seiner Frau, Großmutter Olivia. Und du wolltest mir nicht sagen, wo du gesteckt hast.«
»Es ging dich nichts an. Außerdem war Gideon mein Onkel.«
»Und mein Großvater – und wenn die Gerüchte stimmen, auch deiner. Ich wette, deinem tapferen Herzensritter hast du erzählt, wo du warst.«
»Ja, ich habe es Jonathan gesagt. Na und?«
»Und wohin hat der große Gideon dich gebracht? Er nahm dich irgendwohin mit, nicht wahr? Jeder wußte, daß mein geiler alter Großvater eine Vorliebe für Chinesinnen hatte.«
»Du bist ekelhaft.«
Er lachte. »Ist denn der Herzensritter noch hier?«
»Hör auf, ihn so zu nennen!« Sie riß sich los. »Was hast du überhaupt gegen Jonathan? Er hat dir nie etwas getan.«
»Nein, außer daß er dich mir weggenommen hat.«
»Du hast mich nie gehabt, das habe ich dir schon vor Jahren erklärt. Wir sind Cousin und Cousine …«
»Nicht wirklich. Nicht dem Blut nach. Vergiß nicht, ich bin adoptiert.«
»Das macht keinen Unterschied. Wir sind zusammen aufgewachsen. Du bist fast wie ein Bruder für mich. Ich kann nichts anderes für dich empfinden.«
»Woher weißt du das, solange du es nicht versucht hast?« Unvermittelt preßte er seinen Mund auf ihren und zwang seine Zunge zwischen ihre Lippen.
Sie stieß ihn zurück und gab ihm eine Ohrfeige. »Desmond! Geh nach Hause. Du bist betrunken!« Sie drehte sich um und floh die Treppe hinunter.
»Denk an deine schwachsinnige Mutter, Charlotte!« rief er ihr nach. »Denk an sie!«
41
Jonathan ging durch den Regen zurück ins Museum und dachte an die verregnete Nacht in Boston, als er und Charlotte sich unter den Decken aneinandergekuschelt und einen Teppich aus Träumen gewebt hatten.
In der Nacht darauf hatte er das Gedicht verfaßt, gleich nachdem sie abgeflogen war. Er war vom Flughafen in seine kleine Wohnung zurückgefahren und hatte dort im Halbdunkel gesessen, noch ganz erfüllt von Charlottes Duft und Lachen. Er hatte das Gedicht direkt aus seinem Herzen auf das Papier geschrieben. Von der ersten bis zur letzten Zeile hatte er kein Wort und kein Komma mehr daran geändert.
Er hatte Charlotte nicht erzählt, daß er es am nächsten Tag an eine Universität an der Ostküste geschickt hatte, die alljährlich einen angesehenen Poetik-Wettbewerb veranstaltete. Er wußte nicht einmal, warum er das eigentlich tat, denn er war sich sicher, daß seine Verse
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