Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Arm bohren, den nur der dünne Stoff der weißen Bluse schützte.
Wann hatte sie eigentlich ihre Kostümjacke ausgezogen? Gar nicht. Sie wollte zu Jonathan laufen und ihn vor der Bombe warnen, und ganz sicher hatte sie dabei die Jacke angehabt.
Hatte man sie ihr ausgezogen, um sie noch verwundbarer zu machen?
Jonathan. O Gott. Die Bombe. War sie schon explodiert? War er tot? Würde sie jetzt auch sterben? Waren all ihre Anstrengungen umsonst gewesen, wenn sie jetzt auf diese grausame, würdelose Art starb?
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Bitte, lieber Gott, laß Jonathan nicht tot sein.
Die Anlage rückte näher.
Drei weitere Ampullen wurden durchbohrt, gefüllt, geschmolzen und versiegelt.
Charlotte trat der Schweiß auf die Stirn. Sie kämpfte gegen die Handschellen, die die empfindliche Haut an ihren Gelenken aufrissen. Die Metallkante des Fließbandes schnitt ihr in den Rücken.
»Hilfe!« kreischte sie und hörte das spöttische Echo ihrer Stimme an der hohen Decke und den Wänden. »Hilfe!«
Noch sechs Ampullen.
Der Rosenduft war überwältigend, erregte Übelkeit. Sie konnte die Hitze der Flammen schon fast spüren. Sie hörte die Zangen zuschnappen.
Zuerst würden sich die Nadeln mit dem Rosenöl in ihren Arm bohren. Dann würden die Flammen herabzischen. Würde die Bluse Feuer fangen? Und schließlich die Zangen – würden sie nur den Stoff erfassen oder auch die Haut an der Unterseite des Arms finden?
»O mein Gott!«
Sie schluchzte jetzt hemmungslos und zappelte wie eine Wahnsinnige, um ihre Hände zu befreien. Ihre Beine traten sinnlos um sich.
Noch drei Ampullen.
Und wenn sie den Angriff auf ihren Arm überstand? Das nächste Ziel würden ihre Augen sein. Zuerst die Nadeln – nein, sie konnte es nicht überleben. Rosenöl, direkt ins Gehirn gespritzt. Würde sie lange genug bei Bewußtsein bleiben, um zu fühlen, wie ihr die Flammen die Augen versengten? Würde sie die Zangen noch spüren?
»Hilfe! Bitte, lieber Gott!«
Keine weiteren Ampullen mehr zwischen ihr und den Nadeln.
Voller Grauen beobachtete sie, wie die Anlage sich umschichtete, nach links ruckte und ihren Zyklus von neuem begann.
Die Nadeln würden mit einer solchen Wucht herunterkommen, daß sie den Knochen treffen mußten.
Aus dieser Nähe konnte sie sogar das Kleingedruckte an der Gehäusewand lesen: Hergestellt in den Vereinigten Staaten, Kansas City, Mo.
O mein Gott!
Sie hörte das feine Surren des empfindlichen Mechanismus tief im Innern der Maschine, altmodische Getriebe, Zapfen und Räder, die dem Befehl eines unpersönlichen Computercodes gehorchten, eines Roboters, der den Unterschied zwischen einer Glasampulle und menschlichem Fleisch nicht kannte.
Schweiß lief ihr in die Augen, als sie das letzte Klicken hörte, mit dem der neue Arbeitsgang einsetzte.
Zuerst die Nadeln …
Sie schloß die Augen ganz fest. Jonathan!
Sie machte sich bereit für den Schmerz.
Sie wartete.
Sie schlug die Augen auf. Die Anlage hatte sich nicht bewegt.
Dann merkte sie, daß es still war. Jemand hatte das Band abgeschaltet.
Gleich darauf spürte sie Hände an ihren Gelenken, die sie hochzogen und von dem Pfosten lösten. Arme umschlangen ihre Taille und hoben sie vom Fließband. Ihre Beine waren taub. Sie warf die gefesselten Hände über seinen Kopf und klammerte sich weinend an ihn.
Er rannte mit ihr fort, weg von dem Metallungeheuer, das sie zerstören wollte, hinaus aus der Fabrikhalle, in den Regen und in die Nacht.
44
»Du lebst«, schluchzte sie. Jonathan ließ sie vorsichtig auf den Beifahrersitz seines Wagens gleiten und rannte auf die andere Seite. Die Tür öffnete sich mit einem Schwall kalter, feuchter Luft, und er sprang hinein.
Bevor er den Motor anließ, strich er ihr sanft das Haar aus der Stirn. »Mein Gott, Charlie! Bist du verletzt?«
Abgesehen von den Schmerzen im Rücken und an den Schultern und Handgelenken war ihr nichts Ernsthaftes zugestoßen. Auf der Flucht aus der Fabrikhalle bis zu der Stelle, an der Jonathan sein Auto versteckt hatte, durch kalten Regen und belebende, frische Luft, war ihr Kopf wieder klar geworden, und ihr Entsetzen hatte sich in Wut verwandelt. Sie wußte, daß Zorn neue Kräfte verleihen konnte, aber sie fühlte sich so unglaublich schwach, als seien alle Knochen in ihrem Körper zu Wachs geschmolzen.
»Wer hat dir das angetan, Charlie?«
Sie starrte auf ihre blutigen, abgeschürften Arme, die immer noch in den Handschellen steckten. »Keine Ahnung. Ich
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