Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
sobald seine Finger eine Tastatur berührten und seine Augen einen Monitor wahrnahmen, schaltete sein Gehirn mit unerbittlicher Zielstrebigkeit auf Hochgeschwindigkeit, und dann ließ er sich von nichts mehr ablenken.
»Wie lautet das Paßwort für deinen E-Mail-Briefkasten?« Kurz darauf erschien eine neue Mitteilung auf dem Bildschirm. »Sieh mal einer an«, sagte Jonathan. »Er hat dir schon wieder geschrieben.«
Charlotte spähte über seine Schulter und las die neueste Botschaft.
»An diese drei Frauen heranzukommen, war leicht. Bei Dir ist es noch viel leichter.«
»Er hat dich Charlotte genannt. Er scheint dich zu kennen.«
»Oder er will diesen Eindruck nur erwecken. Wenn er mich bei meinem wirklichen Namen nennen würde … dann wäre ich beeindruckt.«
Jonathan nahm die Rolle mit dem Telefondraht, mehrere Kabelklemmen und einen Seitenschneider aus seiner Werkzeugtasche. »Sobald du mir diese Pläne verschafft hast, werde ich mich in eure Kommunikationsleitungen einschleusen.« Er sprach in knappen Worten, was sie von früher her so gut kannte. Wenn er kurz angebunden war, konnte man erkennen, daß er wütend war. Aber worauf? Auf die Situation? Auf sie?
Immerhin war sie es gewesen, die vor zehn Jahren von ihm weggegangen war. Sie war es, die ihn, völlig bestürzt, einfach sitzengelassen hatte.
»Kommst du an diese Pläne heran?«
»Ja. Sie sind in meinem Büro.« Sie griff nach ihrer Ledertasche und wandte sich zum Gehen. »Ich bin gleich wieder da.«
Jonathan sah ihr nach, wie sie durch das Museum ging, und als sie plötzlich vor einer der Vitrinen stehenblieb, beobachtete er sie weiter, unfähig, den Blick von ihr zu wenden.
Nach all diesen Jahren war Charlotte immer noch wunderschön. Sie hatte das glatte schwarze Haar ihrer Vorfahren aus Singapur und die lebhaften grünen Augen ihres amerikanischen Großvaters. Aber die stumpfgeschnittenen Ponyfransen, an die er sich erinnerte, waren verschwunden. Jetzt trug sie das Haar in der Mitte gescheitelt, hinter die Ohren zurückgekämmt und im Nacken mit einer goldenen Klammer zusammengehalten, so daß es wie ein breites, schwarzes Band flach zwischen ihren zarten Schulterblättern lag. Sie war größer als ihre chinesischen Verwandten, hatte aber den geschmeidigen Körper ihrer Großmutter geerbt, eine Figur, die, wie Jonathan einst bemerkt hatte, besser in ein seidenes Cheongsam-Kleid als in Bluejeans paßte.
Plötzlich erinnerte er sich an den Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, eine Begegnung, die in seinem Gedächtnis schimmerte wie eines jener liebevoll angestrahlten Erinnerungsstücke in den Glaskästen. Es war im Pacific-Heights-Distrikt von San Francisco gewesen, vor sechsundzwanzig Jahren. Jonathan war an dem Haus mit dem filigranen Tor und den beiden steinernen Tempelhunden schon oft vorbeigekommen, einem Haus, das für ihn immer voller Geheimnisse gewesen war, bis er einmal an einem Fenster ein Gesicht gesehen hatte, das ihn unverwandt anstarrte. Danach war sie nicht immer dagewesen, nur ab und zu, hatte ihn beobachtet, wenn er auf dem Weg zu seinem Privatgymnasium vorüberging, und ein Bild von ernsten Augen über hohen Wangenknochen bei ihm hinterlassen.
Es war an dem Tag gewesen, als er seine Traurigkeit nicht länger ertragen konnte und sein Leid schwerer geworden war als sein Rucksack. Da hatte er sich in den nahen Park gesetzt, den Kopf auf die Knie gelegt und war in Tränen ausgebrochen. Er hatte sie gespürt, noch bevor er sie hörte oder sah. Ihr Schatten fiel über ihn wie eine Liebkosung. Er wußte noch genau, wie ihre grünen Augen ausgesehen hatten, als sie vor ihm stand und ihn anschaute. Sie hatte gefragt »Was hast du?«, obwohl sie in Wirklichkeit kein Wort sagte.
Er wischte sich die Nase am Ärmel ab, und sie setzte sich neben ihn und legte die Arme in ihren Schoß wie anmutige Schwingen. »Ich vermisse meine Mutter so schrecklich«, platzte er heraus. »Ich gebe mir Mühe, nicht zu weinen, aber ich komme nicht dagegen an.«
Mandelförmige Lider senkten sich über jadegrüne Augen. Einen Moment schwieg sie und sah ihn dann wieder an. »Meine Mutter ist auch tot.«
Das hatte ihn verblüfft. Er hatte nicht erwähnt, daß seine Mutter tot war. Aber es stimmte, sie war im letzten Jahr gestorben, und sein Vater hatte ihn geholt, weil er nun hier in diesem fremden Land leben sollte. »Ich bin aus Schottland«, erklärte er und wußte eigentlich nicht, warum er das erzählte. Aber er hatte sich sofort besser
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