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Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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gefühlt, als lindere es seinen Schmerz, wenn sie es wußte.
    »Möchtest du ein Glas Limonade?« fragte sie und stand auf.
    Und so hatte er das außergewöhnliche Haus betreten, das voll war von exotischen Schätzen und einer seltsamen, fast greifbaren Stille.
    »Ich heiße Charlotte«, hatte sie gesagt, als sie in einem riesengroßen Wohnzimmer standen, von dessen Fenstern aus man einen atemberaubenden Blick auf die Golden-Gate-Brücke hatte.
    »Jonathan«, hatte er geantwortet und sich dann berichtigt: »Johnny.«
    »Ich mag deinen Akzent.« Und sie hatte gelächelt.
    Jetzt sah er ihr nach, wie sie durch das Museum ihrer Großmutter ging, dieses Denkmal des Wettstreits zwischen Großmutter und Enkelin, der solange zurückreichte, wie er denken konnte, und da tat sie etwas Erstaunliches: sie entriegelte die Rückwand eines Glaskastens und nahm etwas heraus.
    Jonathan verließ den Computer und trat zu ihr, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. In ihren Händen sah er zwei wundervoll bestickte Seidenpantoffeln.
    »Sie haben meiner Urgroßmutter gehört«, sagte Charlotte ehrfürchtig.
    »Als sie ein kleines Mädchen war?«
    »Als sie eine erwachsene Frau war.« Die Pantoffeln waren nicht mehr als drei Zoll lang.
    Charlotte legte sie in die Vitrine zurück und griff in die Ledertasche, die über ihrer Schulter hing. Als Jonathan sah, was sie herauszog, sagte er: »Daran erinnere ich mich. Das ist ein Rätselkästchen.«
    »Es gehörte meiner Mutter. Mr. Sung hat es mir vorhin gegeben und gesagt, es könnte mir eine Hilfe in den Stunden der Not sein.« Sie hielt es an Jonathans Ohr. »Hörst du? Es ist etwas drin. Dabei war dieses Kästchen immer leer. Irgend jemand muß etwas hineingetan haben.«
    »Kannst du es öffnen?«
    »Das ist ewig her …« Sie drehte das Kästchen in den Händen hin und her, schob vorsichtig hier, zog dort und drückte auf bestimmte Stellen, um den Ausgangspunkt zu finden. »Ich weiß noch, wie meine Großmutter mir zum ersten Mal so ein Rätselkästchen geschenkt hat«, sagte sie sanft, als sie das erste Täfelchen fand und zur Seite schob. »Sie erklärte mir, daß ein solches Kästchen eine Täuschung sei. Es scheint keine Nahtstellen zu haben, keinen Deckel, keinen Weg ins Innere … Dann zeigte sie mir, wie man es öffnet, welche Geduld dazu nötig ist, wie man das Holz betastet, erst ein Täfelchen und dann ein anderes ausprobiert, und daß man nie glauben darf, man hätte, weil ein Stück in eine bestimmte Richtung gleitet, damit ein anderes freigesetzt. Sie zeigte mir, daß das Ganze von der exakten Bewegung seiner Teile abhängt, jedes einzelne Täfelchen von der Bewegung des vorhergehenden. Ich brauchte eine Woche, um das erste Kästchen zu öffnen, und dabei war es wahrscheinlich ein ganz einfaches mit nur zwölf Schritten. Aber als ich dann hineinsah, war ich enttäuscht, weil es leer war. Ich dachte, ich hätte eine Belohnung verdient, weil ich es so gut hingekriegt hatte.«
    Sie verschob ein weiteres Täfelchen des kleinen Kästchens und tastete nach dem nächsten. »Großmutter erklärte mir, das Vergnügen liege in der Suche nach dem Schatz, nicht im Finden. Das sagte sie immer wieder und schenkte mir Jahr für Jahr leere Kästchen.«
    Jonathan hörte ihr zu und beobachtete dabei, wie ihre schlanken Finger vorsichtig das Kästchen bearbeiteten, die beweglichen Teile fanden, sie prüften und so sorgfältig hin und her schoben wie ein wachsamer Kundschafter einen trügerischen Irrgarten durchquert. Er erinnerte sich daran, als sie ihm zum ersten Mal gezeigt hatte, wie man ein Rätselkästchen öffnete. Damals hatten sie auch so beieinander gestanden, daß ihre Köpfe sich berührten, und Jonathan hatte gegen den überwältigenden Drang gekämpft, sie zu küssen.
    »Großmutter wollte mir beibringen, welche Freude darin liegt, so ein Kästchen zu öffnen. Sie verstand nicht, daß es ohne die Hoffnung auf eine Belohnung auch keine Anstrengung gab. Schließlich, einmal zu Weihnachten, ich war wohl siebzehn oder achtzehn, warf ich nur einen Blick auf das neueste Kästchen und ließ es dann einfach stehen. Großmutter war tief verletzt. Sie hatte mir immer so gern dabei zugeschaut, wie ich begierig die Kästchen öffnete. Und nun wollte ich nicht mehr mitspielen.«
    Charlottes Fingerspitzen liefen Schlittschuh auf der glatten Einlegearbeit, fanden die verborgenen Nahtstellen, entlarvten die optische Täuschung, schoben Täfelchen hin und her, nach oben und nach unten.

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