Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
»Im Jahr darauf gab sie mir ein Kästchen und sagte: ›Mit Inhalt.‹ Also öffnete ich es und fand einen Ring mit einer Perle. Aber es war nicht mehr dasselbe.«
Das letzte Täfelchen gab nach, und der Deckel glitt zurück. Das Innere des Kästchens wurde sichtbar. Es enthielt ein kleines Stück Papier.
»Es steht etwas darauf«, meinte Jonathan. »Chinesische Schriftzeichen. Kannst du sie lesen?«
Charlottes Großmutter hatte sie Chinesisch lesen und schreiben gelehrt, ihr geduldig die Pinselstriche vorgeführt und ihr die Zeichen für »Sonne« und »Mond« beigebracht, um ihr dann zu zeigen, wie beide Zeichen zusammen das Wort »morgen« ergaben.
»Es ist einige Zeit her«, sagte Charlotte und hielt den Zettel ins Licht. »Mein Chinesisch ist ziemlich eingerostet.«
»Ich erinnere mich noch an die komischen Unterhaltungen, die du immer mit deiner Großmutter geführt hast.«
Sie hob den Kopf. »Komisch? Wieso?«
»Sie sprach Chinesisch mit dir, und du hast auf englisch geantwortet.«
Charlotte runzelte die Stirn.
»Weißt du das nicht mehr?«
»Das war mir nie bewußt.«
»Ich versichere dir, für Dritte klang es sehr merkwürdig.«
War das wirklich so? fragte sich Charlotte, während sie die geheimnisvollen chinesischen Schriftzeichen auf dem Stück Papier studierte. Sprachen Großmutter und ich zwei verschiedene Sprachen? Oder ist es bei allen Großmüttern und ihren Enkelinnen so, auch wenn sie beide Englisch sprechen?
»Dieses Zeichen«, sagte sie und zeigte es Jonathan, »stellt eine Schlange in einem Haus dar: Gefahr. Und das hier hat zwei Gesichter: Täuschung .«
»Mr. Sung warnt dich, daß jemand in deinem Unternehmen dich betrügt?«
»Oder jemand in meinem Haus «, antwortete Charlotte und ließ den Blick über die Vitrinen schweifen, die ihre Familiengeschichte enthielten.
»Komische Art, dir einen Rat zu geben – eine versteckte Botschaft in einem Rätselkästchen! Warum sagt er nicht einfach: ›Charlotte, ich glaube, es ist ein Verräter unter uns‹?«
»Chinesische Sitte«, murmelte sie.
Jonathan lächelte. Einst war er mit chinesischen Sitten sehr vertraut gewesen.
»Es gibt vieles über meine Familie, das ich nicht weiß.« Ihre Augen glitten über die Schaukästen, und zwischen ihren Brauen war eine kleine Furche. »Wir waren immer Flüsterer, Hüter von Geheimnissen, Großmutter am allermeisten. Und doch schuf sie dieses Museum, dieses Denkmal – ein Keller voller Leichen. Dieser Ort ist voll von unserer Vergangenheit, er ist voll von Andeutungen. Ich frage mich …«
»Was fragst du dich?«
»Dieser Mensch, der unsere Produkte vergiftet und diese E-Mails geschickt hat … Vielleicht ist es gar keine Industriesabotage. Vielleicht ist der Eindringling kein Fremder. Er könnte in meiner nächsten Umgebung sein, jemand, der einen ganz persönlichen Groll gegen mich oder meine Familie hegt – der eine alte Rechnung begleichen will.«
Jonathan musterte die Glaskästen. »Ich stecke auch hier drin, weißt du«, sagte er sanft.
»Ja, ich weiß.«
Sekundenlang begegneten sich ihre Blicke. Dann fuhr sie fort: »Ich werde mich einmal hier umschauen. Ich habe Desmond vorhin gesagt, ich wollte die Personalakten und Finanzunterlagen durchsehen, aber nicht, wo ich das tun würde. Wir können von Großmutters Büro aus das Gelände überwachen und jederzeit feststellen, wo alle sind. Wenn jemand nach mir sucht, kann ich plötzlich erscheinen.«
Sie griff noch einmal in den Glaskasten und holte die Drei-Zoll-Pantoffeln heraus. »Weißt du«, murmelte sie und sah auf die winzigen Schuhe mit der kostbaren Gold- und Silberstickerei, die Verstümmelung und Schmerz verdeckt hatten, »ich kannte einmal alle diese Geschichten. Großmutter hat sie mir erzählt. Aber irgendwann habe ich nicht mehr zugehört. Und dann nahm ich einen großen Besen und fegte alle diese alten Sachen aus meinem Kopf. Aber weißt du was?« Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an. »Wenn ich auf diese Pantoffeln schaue, kann ich meine Großmutter fast wieder hören, wie sie mir von ihrer Mutter, Mei-ling, erzählt, die sie getragen hat. Hören wir wirklich die Stimmen unserer Großmütter, Johnny? Oder wünschen wir es uns nur so sehnlich, daß wir daran glauben?«
Er legte ihr die Hand auf den Arm, eine feste Berührung, als wollte er eine Verbindung zwischen ihnen schaffen. Aber gerade als er sprechen wollte, zerriß ein plötzlicher Ton die Stille.
»Was war das?« fragte Charlotte.
»Der Alarmton
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