Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
hinausschleichen, über die Feuertreppe. Schnell!«
6
Sie folgten einem überdachten Weg, der vom Hauptgebäude fortführte und sich dann im Park verzweigte.
Jonathan trottete hinter Charlotte her, umging Pfützen, durchquerte Lichtkegel, die von Strahlern, die im Dach eingelassen waren, auf den Weg geworfen wurden. Plötzlich blieb er stehen und spähte in den dichten Regen.
»Was ist das?«
»Ein Gewächshaus. Wir züchten dort seltene Kräuter.« Jonathan musterte mit schmalen Augen das geisterhafte Gebäude, das im Regen grünlich schimmerte. Ein schwaches Licht im Inneren verwandelte gekrümmte Baumstämme und riesige Blätter in dunkelgrüne Schattenrisse. »Ich muß da rein.«
»In das Treibhaus? Warum?«
»Kannst du mich reinbringen?«
»Ja.«
Sie huschten, immer darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, über den Kiesweg. Charlotte tippte an der Schalttafel einen sechsstelligen Code ein, und die Tür sprang auf. Sofort schlugen ihnen warme, feuchte Luft und schwere, lehmige Gerüche entgegen. Jonathan drang in den Dschungel aus Grünpflanzen, Blumen und Bäumen ein und inspizierte jedes einzelne Gewächs, vor allem unten an den Wurzeln. Vor einem schwer mit duftenden rosa Blüten beladenen Busch blieb er stehen. »Was ist das?«
»Eine Baumpäonie. Wir brauchen sie für antiseptische und diuretische Mittel. Jonathan, was …«
Er fuhr sich über die feuchte Stirn. »Wird damit gerade was gemacht?«
»Nein. Die Wurzeln werden erst im Herbst geerntet.«
Zu ihrer Verblüffung ließ er seine schwarze Tasche fallen, kniete rasch nieder und öffnete den Reißverschluß eines weiteren Fachs, aus dem er drei in Zellophan gewickelte Metallgegenstände hervorholte. Zu ihrem noch größeren Schreck sah sie, wie er vorsichtig die Erde am Fuß des Stamms beiseiteschob und die Gegenstände vergrub.
Während sie zuschaute, wie er die Erde wieder anhäufte, wobei er sorgsam darauf achtete, keine Spuren zu hinterlassen, stiegen ihr die warmen Düfte des Gewächshauses in die Nase – Sommerdüfte. Sie erinnerten sie an die Sommer von einst, als Jonathan in jenem Juni fortging. Sie erzählte ihm dann immer, was sie alles anstellen würde, wenn er weg war, aufgeregt und geschwätzig, damit es so klang, als gäbe seine Abwesenheit ihr endlich Gelegenheit, die Dinge zu tun, die sie wirklich zu tun wünschte. Sie hatte es zwar eigentlich nicht gewollt, daß es sich so anhörte, so, als sei sie erleichtert, ihren Gefängsniswärter endlich loszuwerden. Aber sie war verletzt und wollte es nicht zeigen. Sie zählte Spiele der Giants auf, sprach von mittelalterlichen Märkten und vom Reiten im Golden-Gate-Park, um den Kummer über ihre Trennung zu überspielen, ihre panische Angst davor, daß er dieses Mal nicht wiederkommen würde. Schau, wie glücklich ich sein werde, prahlten Stimme und Lächeln, während ihr Herz schrie: Verlaß mich nicht, Johnny, ohne dich bin ich nichts als eine leere Hülle.
Dann stand er da mit seinen gefühlvollen braunen Augen, mit stummem Mund und schwieg. Aber sie sah den verletzlichen Pulsschlag an seinem blassen, dünnen Hals und wußte, daß sein Innerstes mit seiner Stummheit kämpfte. So sagten sie einander auf Wiedersehen, Charlotte plappernd und kichernd, er still und verwirrt, und beide fragten sich still, wann wohl jemals alles so sein würde, wie es sein sollte.
Als Jonathan die Metallteile mit Erde bedeckte und sie festklopfte, brachen welke Blätter von dem Busch ab und schwebten zu Boden. Sie ließen Charlotte an gebrochene Versprechen denken. Ihr Vater war vor ihrer Geburt gestorben, ihre Mutter, als sie noch ein Baby war. Dann hatte sie zugesehen, wie ihr Onkel Gideon starb. »Sie haben mich alle verlassen, Johnny«, hatte sie gesagt, als er und sie neunzehn waren. »Versprich mir, daß du mich nie verläßt.«
Er hatte es versprochen. Und dann hatte er sie ebenfalls verlassen.
Jetzt stand er von der Baumpäonie auf und rieb sich die Erde von den Händen. Auf ihren fragenden Blick sagte er: »Eine Pistole. Ich habe sie für alle Fälle mitgebracht. Aber sie ist nicht zugelassen, darum darf ich mich nicht damit erwischen lassen. Gehen wir.«
Charlotte führte ihn »zurück ins alte China«. So jedenfalls kam es Jonathan vor, als sie vor ihm durch eine schwere Tür schritt und die Wandlampen einschaltete. Sanftes Licht gab den Blick auf eine Szene aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt frei.
»Es war eine Idee meiner Großmutter«, erklärte Charlotte mit gedämpfter
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