Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
forderten. Wie ihr Sohn Desmond hätte Margo sie nur allzugerne gefragt, was sich in jenem Sommer, als Charlotte verschwunden gewesen war, abgespielt hatte. Aber Charlotte wußte auch, daß Margo im Gegensatz zu Desmond stumm bleiben würde.
Sie hatte nur einmal gefragt.
Nie würde sie Margos überraschende Einladung zu einem Einkaufsbummel vergessen, die einzige Gelegenheit, an die sie sich erinnern konnte, bei der Margo nett zu ihr gewesen war. Charlotte, damals erst fünfzehn, hatte sich geschmeichelt gefühlt und. keinerlei Verdacht gehegt. Erst als Margo beim Mittagessen das Gespräch geschickt auf Charlottes geheimnisvolle dreiwöchige Abwesenheit gelenkt hatte, war ihr klargeworden, worum es bei. dieser Einladung eigentlich ging. »Charlotte, Liebes, wo warst du denn nun wirklich mit deinem Onkel?«
Charlotte hatte das häßliche Wort, das man hinter ihrem Rücken flüsterte, damals noch nicht gekannt: Inzest. Erst Jahre später, als Desmond in einer seiner bissigen Stimmungen zu ihr gesagt hatte: »Aber du weißt doch, was die Familie glaubt, was zwischen dir und meinem Großvater passiert ist?«, hatte sie es begriffen. Sie hatte ihm nicht erzählt, was er wissen wollte, so wenig wie Margo bei jenem Mittagessen, oder Tante Olivia, oder sonst irgend jemandem. Der einzige, dem sie es anvertraut hatte, war Jonathan.
»Charlotte! Liebling!« Margo küßte die Luft neben Charlottes Wangen. »Das ist ja furchtbar, wirklich furchtbar! Adrian und ich haben beschlossen, daß diese Last für dich allein einfach zu schwer ist. Laß dir von uns helfen. Leg einen Teil deiner Verantwortung auf unsere Schultern. Du mußt zugeben, daß es nur vernünftig ist, wenn du in dieser schrecklichen Krise für eine Weile zurücktrittst und die Kontrolle Erfahreneren überläßt.«
»Ich schaffe es schon, Margo«, erwiderte Charlotte und dachte an Margos Wut und Empörung, als Charlotte die Führung des Unternehmens geerbt hatte. Margo war sicher gewesen, sie oder Adrian würden den Posten bekommen.
»Aber, Liebes, die gräßlichen Demonstranten da draußen mit ihren Schildern! Diese ganze widerliche Tieraffäre wird wieder an die Öffentlichkeit kommen. Bist du sicher, daß du das alles noch einmal durchmachen willst?«
Sie schien voller Anteilnahme und Fürsorge, aber Charlotte durchschaute diese Fassade und dachte: Sie hat mir immer noch nicht verziehen, daß ich ihr das Geheimnis nicht anvertraut habe.
»Margo, ich habe eine Konferenz angesetzt.«
»Eine Konferenz! Wann?«
»Jetzt gleich. Du, Adrian, Desmond und Mr. Sung. Im Sitzungszimmer der Geschäftsleitung.«
Margo gab einen müden Seufzer von sich. »Es kann wohl nicht warten, Herzchen?«
»Nein. Würdest du bitte Adrian Bescheid sagen?«
Bevor Margo weitere Einwände erheben konnte, war Charlotte den Gang hinuntergegangen, um die anderen Teilnehmer zu holen. Im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter fand sie Agent Knight, der sich Kaffee aus dem Automaten holte. Als sie ihn einlud, an der Sitzung teilzunehmen, akzeptierte er auf eine Weise, die ihr sagte, daß er ohnehin teilgenommen hätte, aufgefordert oder unaufgefordert.
Endlich hatten sich alle am Ende des langen, polierten Tisches im Geschäftsleitungszimmer eingefunden. Charlotte räusperte sich, tastete nach dem elektronischen Stöpsel in ihrem Ohr und sagte: »Desmond, würdest du bitte die Tür schließen?«
Während sie zu der kleinen Gruppe sprach und dabei betete, daß Jonathan schnell und ungehindert arbeiten konnte, wanderten Charlottes Gedanken zu dem Foto ihrer Großmutter als Schulmädchen in Singapur. Ob Jonathan sich wohl noch an den Tag erinnerte, als sie ihn zum ersten Mal ihrer Großmutter vorgestellt hatte und er zum Abendessen geblieben war und alles, was ihre Großmutter gekocht hatte, so gierig verschlang, als hätte er seit Ewigkeiten nichts mehr zu sich genommen? Ihre Großmutter hatte ihn geschickt dazu gebracht, von sich zu erzählen, und so hatte Charlotte seine Lebensgeschichte erfahren, die ihr so wunderbar tragisch und romantisch vorgekommen war.
Obwohl Jonathan in Amerika geboren war, hatte er seine Kindheit in Schottland verbracht, am östlichen Rand der Highlands, in einem kleinen Dorf nördlich von Dundee. Sein Vater war ein reicher amerikanischer Geschäftsmann, der einer Laune folgend durch Schottland gereist war, um seine Clan-Wurzeln zu suchen. Im idyllischen Sommer war Robert Sutherland der hübschen Mary Sutherland – keine Verwandte, es sei denn vielleicht wenn man
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