Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
der Stimme der fremden Dame klang – als wisse sie genau, wie er sich fühlte –, hätte es ihn nicht überrascht, wenn sie auch ein Mittel gegen Heimweh gehabt hätte.
Und in gewisser Weise war es sogar so gewesen, auch wenn der dreizehnjährige Johnny es damals nicht gemerkt hatte. Sie hatte ihn eingeladen, mit ihr und Charlotte zu Abend zu essen, und während der Nebel sich über die Bucht von San Francisco legte, hatte Jonathan zum ersten Mal chinesisches Essen und chinesisches Mitgefühl erlebt.
Charlottes Großmutter hatte ihn von sich selbst erzählen lassen und ihm behutsame Fragen gestellt, während sie ihm Schüsseln mit gedämpften Klößen und Nudeln vorsetzte. Sie goß ihre Neugier über ihn aus, wie sie grünen Tee in kleine Tassen goß. Sie stocherte so vorsichtig in der Geschichte seiner Familie herum, wie sie in einem Teller mit gebratenen Shrimps herumstocherte und die dicksten und schmackhaftesten für ihn heraussuchte. Und ohne daß er es wußte, befreiten ihn die heilenden Speisen der Großmutter, die Ausgeglichenheit, Harmonie und Glück brachten, von seinem Kummer, Groll und Leid.
Es war derselbe Tag gewesen, an dem Charlotte ihm ihren wahren Namen anvertraut hatte, denjenigen, der auf ihrer Geburtsurkunde stand, und Jonathan, dem der Name insgeheim sehr gefiel, ihr aber nicht weh tun wollte, stimmte ihr zu, daß Charlotte viel schöner klang, auch wenn es nur ein Name aus einem Geschichtenbuch war.
Sie rannten durch den Regen und stiegen, als sie das Hauptgebäude erreicht hatten, eilig die Feuertreppe hinauf. Im zweiten Stock spähten sie vorsichtig in die Empfangshalle. Dort stand Margo.
Jonathan staunte, wie wenig man Margo Barclay ihr Alter ansah. Das gebräunte, glatte Gesicht trug den unsichtbaren Stempel eines teuren Schönheitschirurgen. Jonathan rechnete sich aus, daß sie Ende Sechzig sein mußte. Er erinnerte sich an Gerüchte über ihren unersättlichen sexuellen Appetit und fragte sich, ob das wohl noch immer zutraf. Dachte sie jemals an den Tag in seinem letzten Frühling in Amerika, als er neunzehn Jahre war und in dem Pool hinter Charlottes Haus schwamm? Charlotte war hineingegangen, um Limonade zu holen, und Mrs. Barclay, eine Frau, die gut dreißig Jahre älter war als er, war im grellrosa Bikini erschienen. Ein glatter, lautloser Kopfsprung hatte sie genau an der Stelle auftauchen lassen, wo Jonathan im seichten Wasser auf den Stufen saß. Wie ein Torpedo war sie auf ihn losgeschossen und hatte sich auf ihn gestürzt. Mit knapper Not konnte er aus dem Pool klettern.
Nie hatte er Charlotte davon erzählt. Als sie mit dem Limonadentablett aus dem Haus kam, hatte sich Mrs. Barclay längst auf einer Liege ausgestreckt und zündete sich gelassen eine Zigarette an, während in Jonathan noch der Gedanke an ihren gierigen Mund zwischen seinen Beinen brannte.
Er schüttelte die Erinnerung ab. »Ich warte hier, bis du sie alle im Sitzungszimmer der Geschäftsleitung hast. Du gibst mir ein Zeichen, indem du einen von ihnen bittest, die Tür zu schließen. Dann lege ich los. Ich brauche ungefähr zehn Minuten. Laß sie nicht weggehen, bevor ich Entwarnung gebe.«
Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm, seine Finger gruben sich in ihre Haut. In seinen dunklen Augen erkannte sie den alten Mut, die vertraute Eindringlichkeit. »Ja«, flüsterte sie und dachte an ein zerbrochenes Windspiel, eingewickelt in ein meerblaues und waldgrünes Seidentuch. Jonathan war zu ihr zurückgekommen, als sie geglaubt hatte, ihn niemals mehr wiederzusehen.
11
Schon von weitem erkannte Charlotte Margos Parfüm: »Tuscany« von Estée Lauder. Sie wußte, daß Margo niemals Produkte von Harmony benutzte. Ihre Bäder zu Hause und das Privatbadezimmer neben ihrem Büro waren voll mit Sachen von Clairol, Lancôme, Elizabeth Arden … als wollte sie betonen, wie sehr sie das Unternehmen verachtete, das sie doch so gerne besessen hätte.
Margo drehte sich um, und Charlotte bemerkte die harten Wutfalten um ihre Augen. Das Lächeln für die Öffentlichkeit war selbstverständlich da – niemand verstand es besser als Margo, einen guten Eindruck zu machen. Nicht umsonst war sie als Vizepräsidentin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Aber unmittelbar unter der Oberfläche brodelte es.
Margos Blick huschte nach unten, und Charlotte wußte genau, wonach sie Ausschau hielt. Charlotte trug das Medaillon aus der Shang-Dynastie nicht immer, sondern nur an Tagen, die innere Stärke von ihr
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