Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
ihr hinuntergebeugt, ein wenig zu dicht, dachte Charlotte. »Vor zwei Jahren ist eine Frau aus Kansas City schwer erkrankt und fast gestorben, weil sie eine mit Quecksilber versetzte Gesichtscreme benutzt hatte. Knight hat sich mit voller Wucht auf den Hersteller gestürzt. Obwohl sich am Ende herausstellte, daß die Firma keinerlei Verschulden traf und der Exfreund der Frau sogar gestand, daß er die Creme vergiftet hatte, war das Unternehmen ruiniert. Knight betrachtet sich als Sheriff, Richter und Henker in einer Person. Zuerst spricht er das Urteil, danach stellt er die Fragen.«
Sie fügte hinzu: »Ich gäbe eine Menge darum, zu erfahren, worüber er und Margo gerade sprechen.«
»Das werden wir bald wissen«, erwiderte Jonathan entschlossen. »Charlotte, ich möchte, daß du eine Konferenz einberufst.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Jetzt?« Ihr Blick fiel auf den Beutel, den er an seinem Gürtel befestigt hatte. »Warum?«
»Ich muß in ihre Büros und darf auf keinen Fall riskieren, von ihnen gesehen zu werden. Es ist zwar schon lange her, aber trotzdem könnte mich einer der Barclays wiedererkennen.«
»Soll ich alle zusammenholen?«
»Nicht die Sekretärinnen. Die kennen mich nicht.«
»Aber wenn eine von ihnen dich in einem Büro erwischt, wird sie wissen wollen, was du da treibst.«
Er griff in seine hintere Hosentasche und zeigte ihr eine Ausweismappe. Als er sie aufklappte, erkannte sie eine Karte und ein Abzeichen. »Ein Andenken an meine Zeit bei der Spionageabwehr«, erklärte er lächelnd.
Sie zögerte. Es war ein bitteres Lächeln, das sie an ihr letztes Zusammentreffen vor zehn Jahren in San Francisco erinnerte, als er ihr erzählte, er sei »raus aus dem Spitzelspiel«.
Daß er überhaupt ein Spion gewesen war, hatte sie überrascht, aber daß er diese Tätigkeit aufgegeben hatte, ohne einen Grund dafür zu nennen, hatte das Geheimnis noch größer gemacht. Sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt nachzufragen, denn da hatte er ihr die Neuigkeit mitgeteilt, die wie eine Bombe eingeschlagen war und ihre Beziehung zerstört hatte.
»Also gut«, meinte sie jetzt und legte die alte Fotografie hin, die sie immer noch in der Hand gehalten hatte. »Es wird mir schon etwas einfallen.«
»Hier.« Er streckte ihr die Hand hin.
In seiner Handfläche lag ein kleiner Metallknopf.
»Was ist das?«
»Damit bleiben wir beide in Verbindung. Steck ihn dir ins Ohr. Er funktioniert gleichzeitig als Sender und als Empfänger. Die Schaltung ist offen, so daß ich alles höre, was du sagst. Die anderen kann ich allerdings nicht verstehen, weil der Knopf nur die Stimme dessen, der ihn trägt, aufnimmt.« Er steckte sich ebenfalls einen zweiten Knopf in das eigene Ohr und flüsterte: »Kannst du mich hören?«
Charlotte fuhr zusammen. Es klang fast, als befände sich Jonathan in ihrem Kopf. »Ja, sehr gut. Und was willst du jetzt tun?«
»Ich werde in den wichtigsten Büros Abhörgeräte installieren, damit wir alles mitbekommen, was vorgeht.« Er trat hinter sie und öffnete die goldene Spange, um ihr das Haar über die Ohren zu streichen. »Versteck den Knopf lieber – für alle Fälle.«
Charlotte hätte beinahe einen Satz gemacht. Jonathans Berührung elektrisierte sie noch immer.
Beim Hinausgehen fiel Jonathans Blick auf die Schalttafel und das alte Foto, das Charlotte dort liegengelassen hatte. Er erkannte es wieder, auch wenn es lange her war: ein Bild von Charlottes Großmutter als kleinem Mädchen in Singapur. Ein hübsches Kind in einer Schuluniform, das schüchtern in die Kamera lächelte, das Gesicht umrahmt von zwei langen schwarzen Zöpfen. Darunter stand etwas in chinesischen Zeichen und englischer Schrift: »Vollkommene Harmonie, zehn Jahre, 1918. Missionsschule St. Agnes.«
Draußen am Eingang blieben sie stehen, um zu prüfen, ob der Weg frei war. Jonathan dachte daran, wie er Charlottes Großmutter zum ersten Mal begegnet war. Charlotte und er waren dreizehn gewesen und kannten einander erst wenige Wochen. Charlotte hatte ihn als »mein Freund aus Schottland« vorgestellt.
»Aii-yah, von so weit kommst du her«, hatte die Großmutter gesagt, »deine Familie – so weit, weit fort.« Sie hatte es sanft und traurig gesagt, als erkenne sie in dieser einen Sekunde seinen ganzen Schmerz und verstehe ihn. Charlotte hatte ihm erzählt, ihrer Großmutter gehöre eine Arzneimittelfirma. »Sie heißt nach meiner Großmutter. Ihr Name ist Vollkommene Harmonie.« Bei der Anteilnahme, die aus
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