Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
wie Held und Heldin sich auf den ersten Blick verlieben, und hatte sich nicht auch meine Mutter sofort in meinen Vater verliebt? Dennoch hatte ich das bis zu dieser Sekunde nicht wirklich verstanden – bis ich durch das Schaufenster spähte und die funkelnden grauen Augen des gutaussehenden jungen Mannes an der Theke mich in ihren Bann schlugen.
Ich nahm allen Mut zusammen, schluckte und trat ein. Hoffentlich hatte der Juwelier Neuigkeiten für mich.
Die Augen des jungen Mannes, dessen Lächeln auf seinem Gesicht erstarrt zu sein schien, ließen mich nicht los. Ich wollte wegschauen, brachte es aber nicht fertig. Zögernd blieb ich an der Tür stehen und fühlte, wie mich ein Zauber umgab. Ich glaube, der Laden war voller Silber und Gold, Glanz und Glitter, mit schimmernden Schaukästen und Kristallampen. Aber ich sah nur zwei durchdringende Augen von der Farbe des Morgennebels und ein Lächeln, das mir das Gefühl gab, es wolle mehr sagen.
»Das ist sie! Das ist die Diebin!«
Ich starrte auf den Juwelier. Er zeigte auf mich. Plötzlich tauchte aus dem Hinterzimmer ein Polizist auf. Als ich gerade wegrennen wollte, hörte ich den gutaussehenden jungen Mann sagen: »Warten Sie! Wir wollen erst mit ihr sprechen. Vielleicht hat sie den Ring meines Vaters nur gefunden.«
»Es sind alles Diebe, Mr. Barclay!« schrie der Juwelier. »Das ganze Pack!«
Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, eine Straße hinunter, eine Gasse hinauf, die nächste hinunter, die übernächste wieder hinauf. Ich sprang auf eine Cable Car auf und von der nächsten ab, bis ich endlich in Sicherheit war, unter Leuten, die ich kannte, Leuten in gefütterten blauen Jacken und schwarzen Seidenhosen, die an die Wand gekleisterte, chinesische Zeitungen lasen, eine Ente zum Abendessen aussuchten oder über das Gewicht einer Melone stritten. Ich war zu Hause bei meinen eigenen Leuten, der Polizist war mir nicht gefolgt.
In meinem Kopf überschlugen sich wirre Gedanken. Der Juwelier hatte den jungen Mann »Mr. Barclay« genannt. »Der Ring Ihres Vaters.« Das hieß, daß er mein Halbbruder war. Ich hatte schon gewußt, daß mein Vater eine Erste Gemahlin hatte, weil es in dem Brief stand, den er meiner Mutter hinterlassen hatte – dem Brief, der nur mit »Richard« unterschrieben war und das Versprechen seiner Rückkehr enthielt.
Warum war er nie gekommen? Hatte seine Erste Gemahlin ihn davon überzeugt, daß er seine chinesische Konkubine vergessen mußte?
Mit schwerem Herzen stieg ich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Wie sollte ich meinen Vater finden, wenn an jeder Ecke ein Polizist lauerte?
Als ich die offene Wohnungstür sah, dachte ich, Mrs. Po sei zu Besuch gekommen. Dann sah ich die Verwüstung.
Ein Einbrecher war da gewesen.
Der schwarzlackierte Arzneikasten meiner Mutter war fort. Die Matratze auf dem Bett war aufgeschlitzt, die amerikanischen Dollars, die ich in der Füllung versteckt hatte, waren verschwunden. Mein Aquarium lag in Scherben, der Engelfisch tot dazwischen. Das war das Schlimmste, das zerbrochene Fischglas und der feine weiße Sand überall auf dem Boden.
Meine Augen wanderten zu der bescheidenen Kwan-Yin-Figur, von der meine Mutter gesagt hatte, kein Dieb würde sie stehlen. Es stimmte. Aber weil ich gedacht hatte, Kwan Yin habe die Last der Smaragde meiner Mutter schon allzu viele Jahre getragen, hatte ich ihr Ruhe gegönnt, indem ich die Steine aus ihrem Körper entfernt und anderswo versteckt hatte. Und gab es ein besseres Versteck als den Sand in einem Aquarium?
Am liebsten hätte ich um das Verlorene geweint. Aber dann dachte ich an die Ironie des Schicksals – daß man mir auf der einen Seite alles gestohlen, auf der anderen aber zwei Geschenke gemacht hatte, Geschenke, die mir niemand rauben konnte.
Das erste war der Name meines Vaters: Barclay. Nun konnte ich ihn finden.
Das zweite war eine taufrische Liebe, wenn auch von der falschen Art. Denn der schöne junge Mann, in den ich mich soeben verliebt hatte, war mein Bruder.
18
21 Uhr – Palm Springs, Kalifornien
»Bleib dran, Charlotte. Ich werde bald eine kleine Überraschung für Dich haben, die Du auf keinen Fall versäumen solltest.«
»Charlotte!« rief Jonathan. »Eine neue Nachricht!«
Charlotte legte Richard Barclays Ring zurück in die Vitrine und hastete zurück ins Büro ihrer Großmutter. Als wollte es sie verhöhnen, leuchtete auf dem Computerbildschirm ein neues E-Mail.
»Was könnte das für eine Überraschung sein?«
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