Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
ferne Jazzmusik, den Lärm der Füße und des Verkehrs draußen auf der Straße, der nie nachzulassen schien. Was war es, auf das ich lauschen sollte?
Ich fing an zu weinen. Ich konnte nicht hören, was meine Mutter mich hören lassen wollte.
»Lausche mit den Sinnen, die angenehm sind …«
Und ich versuchte es. Nach einer Weile merkte ich, daß das Wasser, das durch die Rohre in der Wand gluckerte, wie ein klarer Waldbach klang. Aus dem Geruch von Feuchtigkeit und Moder in meinem Kellerraum wurde der Geruch von fruchtbarer Erde und Lehm. Die Sandelholz-Räucherstäbchen verströmten den harzigen Duft des Waldes an einem heißen Sommertag. Und dann, ganz plötzlich, laut und klar wie die Stimme meiner Mutter und so, als stünde er hier im Zimmer, hörte ich noch eine Stimme – die meines Bruders Gideon, und er sagte: »Die Chinesen haben eine besondere Art, den Dingen schöne Namen zu geben.«
Und vor meinem inneren Auge sah ich, wie er in dem Drugstore nach der Schachtel mit den Hustenbonbons griff, und ich erkannte, was mir dort nicht aufgefallen war: daß er das ganze Sortiment, das dort auslag, geprüft und sich aus der großen Auswahl die hübscheste Schachtel mit dem verlockendsten Namen ausgesucht hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich an die anderen Arzneien, die dort verkauft wurden, die mit den häßlichen Namen und den langweiligen oder unharmonischen Verpackungen. Sie hatten verblaßt, vergilbt und verstaubt gewirkt, so als würden sie schon lange in ihrem Glaskasten liegen. Aber es hatte andere gegeben, mit Namen, die lieblich im Ohr klangen – Elfenbeinseife, Duft von Kaschmir –, und die standen oben auf dem Ladentisch und sahen neu aus, als seien sie frisch geliefert, weil sie sich so gut verkauften.
Ich bat die Göttin um Vergebung, sprang auf und ging zu meinem Arzneivorrat. Ich leerte die Gläser mit dem Balsam in den Topf auf der Kochplatte, fügte eine Prise Rosenöl hinzu, bis der himmlische Duft den Geruch nach Kampfer und Bienenwachs überdeckte, und veränderte durch den Saft zerquetschter Wolfsbeeren die Farbe von Weiß in Blaßrosa. Als die Mixtur abgekühlt war, sah ich mir die Marmeladengläser an, in denen ich die Salbe anbot. Sie waren einfach und nicht neu, denn ich hatte sie in Mülltonnen gefunden.
Wie konnte ich meinen süß duftenden, lieblich anzuschauenden Balsam in solche Gläser füllen? Ich blickte mich um und entdeckte den kleinen Tonkrug, den Mr. Lee mir zum Geburtstag geschenkt hatte. »Ich bemale sie für die Touristen«, hatte er mir mit seiner Stimme, die weich war wie die Seide, auf der er malte, erklärt. »Dieser hier hat sich nicht verkauft. Würde er Ihnen gefallen, Harmonie?« Und an der Art, wie er ihn mir hinhielt, hatte ich gemerkt, daß es der schönste von seinen kleinen Töpfen war, mit Blumen und Vögeln verziert, und daß er ihn absichtlich nicht hergegeben hatte. Ich hatte mir gelobt, ihn nie zu verkaufen. Er war das ideale Behältnis für meine neue Salbe.
Nun brauchte ich nur noch einen neuen Namen. »Etwas Hübsches, etwas Chinesisches«, stellte ich mir vor, würde Gideon sagen.
Ich brauchte nicht lange zu suchen. Ich würde dem neuen Mittel den Namen meiner Mutter geben, um sie zu ehren. Strahlende-Intelligenz-Balsam. Und zwar deshalb, weil ich jetzt wußte, daß sie wirklich tot war, denn wie hätte ich sonst ihre Stimme hören sollen, wenn nicht aus dem Himmel? Ich betete, daß sie nicht allein oder unter Schmerzen gestorben war.
Während ich meinen neuen, duftenden Balsam vorsichtig in den hübschen kleinen Krug füllte, erschreckte mich ein Klopfen an der Tür, und ich merkte am Straßenlärm, der zu mir hereindrang, daß es Morgen war. Ich hatte nicht geschlafen und fühlte mich trotzdem erfrischt und verjüngt.
Draußen stand mit Gewittermiene Mrs. Po. »Sie ziehen heute aus!« schrie sie. »Dieser Mann! Kommen mehrere Male! Ich schicke ihn weg. Sie auch weggehen! Wir wollen hier keine Huren. Sie jetzt sofort ausziehen!«
»Das hier ist für Sie.« Ich streckte die Hand aus.
Mißtrauisch beäugte sie den Krug.
»Bitte öffnen Sie ihn«, forderte ich sie auf.
Sie nahm den Deckel ab und spähte hinein. Dann hob sie den Krug an die Nase. Sekundenlang leuchteten ihre Augen vor Entzücken.
»Wofür ist es gut?«
»Man reibt es auf schmerzende Körperteile, wunde Stellen, Insektenstiche, Verbrennungen, Abszesse, rissige Haut.«
»Oh? Was noch?«
»Man inhaliert es bei verstopfter Nase, Lungenstau, trockenem Hals und
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