Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
wechselte. Und als Gideon lächelte, tat ich es auch, als sei eine wortlose Übereinkunft erzielt worden. Ich mußte an etwas denken, das mir meine Mutter einmal über sich und meinen Vater erzählt hatte, von der Zeit, als sie ihn in dem Raum über Madame Wahs Seidengeschäft pflegte. »Wir führten Auge-in-Auge-Gespräche«, hatte sie gesagt.
Damals hatte ich nicht verstanden, was sie meinte. Jetzt aber, Gideons Blick in meinem, begriff ich.
»Können Sie mir von meinem Vater erzählen?« bat ich. »Ich habe ihn nie kennengelernt.«
»Ich kannte ihn auch kaum. Als er nach Singapur ging, war ich fünf Jahre alt.«
Es gab etwas, das ich wissen mußte. »Damals, in dem Juwelierladen …«
»Ach, das! Die Sache mit dem Polizisten. Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung davon, daß er da sein würde.«
»Ein Mädchen war bei Ihnen … blond, sehr hübsch.«
»Ja. Olivia.«
»Ist sie … Ihre Schwester?« Hatte ich eine Halbschwester mit gelbem Haar und weißer Haut?
»O nein, unsere Familien sind befreundet. Ich kenne Olivia seit … lassen Sie mich überlegen … seit der Party zu meinem dreizehnten Geburtstag. Olivia ist sechs Jahre jünger als ich, das müßten also rund zehn Jahre sein. Natürlich war damals der Unterschied zwischen einem Dreizehnjährigen und einer Siebenjährigen viel größer als heute zwischen einem Dreiundzwanzigjährigen und einer Siebzehnjährigen! Inzwischen sind wir gute Freunde geworden.« Er lächelte.
Gute Freunde? hätte ich gerne gefragt.
»Darf ich den Ring meines Vaters einmal sehen?«
Als er sah, wie ich zögerte, fügte er hinzu: »Keine Sorge, ich will ihn Ihnen nicht wegnehmen.«
Ich zog die Kette unter dem Kleid hervor, und Gideon beugte sich näher, um den Ring zu untersuchen. »Es ist zweifellos der meines Vaters. Genauso habe ich ihn in Erinnerung.«
Schnell wich ich zurück. Als ich den Ring wieder in den Ausschnitt gleiten ließ, warf mir Gideon einen merkwürdigen Blick zu. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so direkt bin, aber Sie scheinen nicht gerade im Geld zu schwimmen. Ich meine, Sie sehen ziemlich ärmlich aus.«
Seine Worte taten mir weh, aber ich glaubte nicht, daß er sich dessen bewußt war. Er sprach mit der Unverblümtheit des Amerikaners, wie kein Chinese es je getan hätte.
»Sie könnten diesen Ring für viel Geld verkaufen.«
Ich starrte ihn entsetzt an. »Würden Sie das einzige verkaufen, was Ihnen von Ihrem Vater geblieben ist?«
Und dann las ich etwas in seinen Augen – die Antwort auf eine Frage, die ihn gequält hatte. In diesem Moment begriff ich, daß Gideon Barclay nach mir gesucht hatte, weil er mich für eine Diebin gehalten hatte, die den Ring seines Vaters gestohlen hatte. Er hatte mich in diesen Eissalon geführt, um mir den Ring auf irgendeine Weise abzunehmen. Jetzt aber wußte ich, daß er mir meine Geschichte glaubte.
»Sie sind wirklich die Tochter meines Vaters?« sagte er mit ungläubigem Staunen.
»Warum glauben Sie mir das erst jetzt?«
»Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber Sie sehen aus, als hätten Sie seit Wochen keine anständige Mahlzeit zu sich genommen. Ihr Kleid hat bessere Tage gesehen. Und diese Mittelchen hier …« Er deutete auf meinen bescheidenen Korb. »Ich habe nicht den Eindruck, daß das Geschäft blüht. Und ich könnte wetten, daß Sie nicht im Mark Hopkins wohnen. Habe ich recht?«
»Ich kann mir nicht mehr wünschen, als ich habe«, entgegnete ich und versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter in dieser beschämenden Situation reagiert hätte.
Er beugte sich vor und berührte meinen Arm. Das Lächeln kehrte in seine Augen zurück. »Wenn Sie den Ring entwendet hätten, wäre er längst verkauft. Daß es Ihnen wichtiger ist, den Ring zu behalten, als zu überleben, beweist mir, daß Sie die Wahrheit sagen.«
Ein wunderbares Glücksgefühl durchflutete mich. Richard Barclays Sohn, mein Bruder, hatte mich akzeptiert!
»Du mußt mit mir nach Hause kommen«, rief er plötzlich ganz aufgeregt. »Du mußt bei uns wohnen!«
Für einen Augenblick war ich vollkommen selig und außer mir vor Freude. Ja, ja, ja, wollte ich rufen. Ich komme mit und wohne bei dir im Haus meines Vaters!
Aber gleich darauf hörte ich wieder die kalte, harte Stimme am Telefon, die mich fragte: »Sind Sie das Mädchen, das den Ring meines Mannes gestohlen hat?« Sie hatte mich beschuldigt, bevor ich überhaupt etwas erklären konnte. Wie konnte ich Gideon beibringen, daß ich nicht glaubte, seine Mutter
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