Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
wehrt.«
Als der Kellner sich achselzuckend entfernte, wollte Gideon ihm nachlaufen. Aber ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist richtig, daß ein Bruder die Ehre seiner Schwester verteidigt, aber ich gehöre nicht hierher.«
Bevor er reagieren konnte, schnappte ich mir meinen Korb und floh vom Tisch. Gideon rief hinter mir her, bat mich zu warten, zurückzukommen. Ich hörte, wie mir seine Stimme nach draußen und bis in die Gasse hinein folgte. Dann aber rannte ich um einen Lastwagen herum, der hinter Wong Los Restaurant parkte, sprang durch die Hintertür in Mrs. Wus Blumenladen und vorn wieder hinaus, immer weiter durch die gleichgültige Menge, bis Gideons Stimme aufhörte, nach mir zu rufen.
In dieser Nacht schwor ich, mir meinen Bruder und die verbotene Liebe zu ihm aus dem Kopf zu schlagen. Ich würde mich auf die Verbesserung meiner neuen Medizin konzentrieren und meinen Kopf mit Rezepten und Formeln und den Namen von Kräutern und Mineralien vollstopfen. Ich würde meine Gedanken mit glückverheißenden Daten und Mondphasen füllen. Ich würde die richtigen Gewichte und erforderlichen Temperaturen auswendig lernen. Tagsüber würde ich daran arbeiten, eine Medizin herzustellen, und in den Nächten würde ich verzweifelten Schlaf suchen. Und bei all dem würde ich mir die größte Mühe geben, nicht an ihn zu denken, obwohl ich wußte, er würde immer dasein und mir niemals aus dem Sinn gehen.
Am nächsten Morgen, nach einem mageren Frühstück aus Tee und Reiskuchen, das mir der mitleidige Koch von Wong Los Restaurant schenkte, trug ich meine Arznei, die ich jetzt »Heilt Alles« nannte, auf die Straße. Aber obwohl mein Balsam jetzt vieles zugleich heilte – er half gegen rissige Hände, Verbrennungen, Stiche und Bisse, er beruhigte den Magen, linderte Kopfschmerzen, verlieh der Haut Wohlgefühl, beseitigte Verspannungen und Schmerzen in Gelenken und Muskeln –, wollte ihn keiner kaufen. Ich zählte die Heilwirkungen zusammen: mein Balsam kurierte zwei Dinge mehr als Tigerbalsam. Und alle Leute in Chinatown kauften Tigerbalsam. Warum gefiel ihnen meiner nicht?
Ich sah, daß ich am Ende war. Ich hatte kein Material für meine Medizinen mehr, kein Essen, kein Geld. Meine Hauswirtin wollte mich morgen früh hinauswerfen, damit ein zahlender Mieter einziehen konnte. Mein Leben zerriß wie Wolken im Sturm. Warum hatte ich nur soviel Pech? Lag es daran, daß Reverend Peterson sich bei meinen Papieren geirrt und mich vom Drachen zum Tiger gemacht hatte?
Ich lag auf dem Boden und weinte. Ich weinte, weil meine Mutter, die nun tot war, vom Himmel auf mich herabblickte und sehen konnte, wie tief ihre Tochter gefallen, wie weit ich heruntergekommen war.
Voller Verzweiflung warf ich mich der Gnade Kwan Yins zu Füßen. Ich zündete die Kerzen und Räucherstäbchen an und kniete vor der kleinen Porzellanfigur nieder, die auf der langen Seereise von Singapur hierher meine Gefährtin gewesen war. Ich vollzog den Kotau vor der Göttin, preßte die Stirn an den Boden und betete so inbrünstig, daß ich gar nicht merkte, daß mein Gebet nach einer Weile nicht mehr der Göttin galt, sondern meiner Mutter.
Vergib mir, schrie mein Herz. Ich wollte dich nicht verlassen! Ich wollte dich nicht im Stich lassen, so daß du allein sterben mußtest! Ich hätte niemals hierherkommen sollen! Ich habe keinen Vater hier! Ich habe keine Mutter!
Plötzlich hämmerte es an die Tür. »Sie da drin?« schrie Mrs. Po. »Öffnen Tür!« Aber ich wollte meiner Vermieterin jetzt nicht gegenübertreten. Morgen früh war noch Zeit genug, mich meiner trüben Zukunft zu stellen.
» Chow ma! Respektloses Ding! Hure!«
Ich hörte sie die Treppe hinaufstampfen.
Ich war schwach vor Hunger und Müdigkeit, hielt aber weiter Wache vor Kwan Yins Altar. Mein Kopf wurde so leer, als entschwinde meine Seele durch Mund und Nase. In meinen Ohren summte es. Hinter geschlossenen Augen sah ich Erscheinungen. Und dann vernahm ich die Stimme meiner Mutter: »Hör zu, Harmonie, aber höre nicht mit den Ohren oder dem Verstand. Lausche mit deinem Herzen. Die Antwort liegt dort.«
Ich schnappte bestürzt nach Luft und sah mich in meiner armseligen Kammer um. War sie hier bei mir? Warum konnte ich ihren Geist nicht sehen? »Welche Antwort, Mama?« fragte ich laut.
»Lausche mit den Sinnen. Lausche mit der Erinnerung …«
Ich strengte meine Ohren an. Ich hörte die Geräusche der Wäscherei, Mrs. Pos zornige Stimme, Rufe von der Gasse und
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