Das Haus der kalten Herzen
er sie die Namen der Bäume gelehrt. Libanesische Zedern, Schwarznuss, Bäume aus der Neuen Welt, später aus Australien. Sie hatten Teebäume und Zylinderputzer gepflanzt und im Herzen des Parks, dort wo sich die konzentrisch verlaufenden Pfade trafen, einen Magnolienhain, dessen weiße Blüten sich im Frühling öffneten wie wächserne Kelche. Jetzt waren die Bäume noch jung. Zu Hause, erinnerte sie sich, in ihrem eigenen Century war das Arboretum riesig, die Bäume feuchtkalt und überwuchert.
Die Mädchen gingen wieder ins Haus. Mercy setzte sich auf die Steintreppe vor dem Haus. Was würde passieren? Sie schlug ihr rotes Buch auf und las die ersten Seiten ihres Berichts. So viele lose Fäden. Warum waren Trajan und Thekla gegen die Ehe mit Marietta? Weil die Familie anders war. Sie verstand nur zu gut, dass ihre Lebenserfahrung sehr begrenzt war. Sie hatte unheimlich viele Bücher gelesen. Und anscheinend mehr als hundert Jahre gelebt. Dornröschen hatte hundert Jahre geschlafen, obwohl in der Bibel stand, dass ein Mensch nur drei Dutzend Jahre und zehn zu leben hatte. Welchen Geschichten sollte sie glauben? Trajan hatte Claudius davor gewarnt, dass Marietta alt werden und sterben würde, während er unverändert blieb.
Wie wäre das, hundert Jahre zu leben. Sie spielte den Gedanken im Kopf durch. Ans Sterben hatte sie nie gedacht. Und obwohl sie vielleicht bereits ein Jahrhundert lang gelebt hatte, war es ihr wegen Trajans Zauberbann nicht länger erschienen als ein Tag. Wenn der Bann gebrochen würde und sie wieder anfinge, in einer sich ständig verändernden Welt zu leben, dann würden sich ganze Jahrhunderte vor ihr auftun wie ein endloser Tunnel. Lange Jahre, in denen nur ihre unsterbliche Familie ihre ständige Begleitung war, während andere, normale Menschen durch ihr Leben huschen würden, hinaus und hinein, wobei sie heranwuchsen, alterten und starben. Einst hatte sie Chloe geliebt. Vermutlich war Chloe in der Welt da draußen erwachsen geworden. Vielleicht hatte sie geheiratet, war eine alte Frau geworden und dann gestorben. Jetzt müsste sie also in einem Grab liegen. Mercy spürte eine unerträgliche Einsamkeit, als sie daran dachte. Sie hatte schon so viel verloren.
Langsam begriff sie, wie eine solche Lebensspanne sie von anderen Leuten unterschied, die nach gerade mal einer Handvoll Jahrzehnten schwach wurden und starben. Wie einsam das sein konnte. Mercy rieb sich die Arme. Das zu enge Kleid scheuerte. Ihre Hände waren kalt und weiß. Sie hatte so wenig Zeitgefühl. Seit hundert Jahren wiederholte sie dieselben Handlungen wieder und wieder. Was für ein Leben, trotz seiner Länge.
Wie mochte sich Theklas Verschwinden in die Geschichte der Liebenden einfügen? Wie glaubte Claudius sein Schicksal überwinden und Marietta heiraten zu können? Und warum war er gescheitert? Dieser wilde, stürmische Herbsttag barg ein wichtiges Kapitel der Geschichte. Was war es?
In der Ferne, an der Hauptauffahrt durch den Baumtunnel, regte sich etwas am Torhaus. Mercy kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Ein Wagen in schneller Fahrt. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Wagen so dicht herangekommen war, dass man den Kutscher sehen konnte, der in einen großen braunen Mantel gehüllt auf dem Bock saß. Das Pferd war ein schwerer Brauner mit einer weißen Blesse auf der Stirn und vier weißen Socken. Der Wagen war geschlossen. Hinter Mercy ging die Tür auf. Sie drehte sich um und sah Claudius die Treppe hinuntereilen und den Neuankömmling begrüßen. Seine Stiefel klackten auf dem Stein. Die braune Schürze trug er immer noch. Mercy stand auf und folgte ihm.
Ein kleines Stück vor dem Haus zog der Kutscher plötzlich die Zügel an. Kies spritzte vor den großen gelblichen Hufen auf. Der Hals des Pferdes war schweißnass, die Nüstern gebläht. Der Kutscher riss noch einmal an den Zügeln und das Pferd warf seinen Kopf zurück.
»Fahr am Haus vorbei zu den Ställen«, befahl Claudius. »Einer der Männer wird dir beim Abladen helfen. Hast du alles mitgebracht?«
Der Kutscher, ein gedrungener, rotgesichtiger Mann mittleren Alters, nickte. Das Pferd war unruhig und kaute auf der Trense. Ein Peitschenknall, und der Wagen wendete. Mit Mercy an den Fersen ging Claudius ins Haus. Er schritt durch die Diele, rief einen der Diener und trat durch eine Nebentür zu den Ställen hinaus, wo die Lieferanten Vorräte für die Küche anlieferten. Der Wagen rollte über das
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